„Ein Tag wie ein Jahrhundert“, urteilen 1789 damalige Zeitzeugen. Der symbolträchtige Sturm auf die Bastille vom 14. Juli wirkt als Fanal. Die Französische Revolution erscheint wie ein tektonisches Beben, wie ein Vulkanausbruch. Die revolutionäre Lava des politischen Umbruchs wälzt sich über den ganzen Kontinent. Eine neue Zeit bricht an und eine alte Ära weg.
Ancien Régime und Neuzeit im Disput
Diese zwei Welten prallen im Oktober 1789 im unscheinbaren Landstädtchen Zug dialogisch aufeinander. Da treffen sich die Vertreter zweier Geschichtsepochen: Der 22-jährige Gelehrte Wilhelm von Humboldt – Reform-Motor der preussischen Volksschule und Gründer der Berliner Universität – besucht den 69 Jahre alten Baron Beat Fidel von Zurlauben auf seinem Zuger „Château“. Der eine als feuriger Protagonist der neuen Zeit mit den Ideen der Aufklärung und der Menschenrechte, der andere als überzeugter Repräsentant der alten ständischen Staatsordnung in der barock aufgeblähten Welt der Gnädigen Herren. Ein Stück Weltgeschichte im Mikrokosmos Zug.
Ausgangspunkt zu einer anderen Welt
In diesen Zeitenbruch führt uns der Germanist Heinz Greter mit einer luziden Erzählung. (1) Er verführt uns ganz in die „Nähe der Vergangenheit“, wie der Historiker und Publizist Prof. Jean-Rudolf von Salis diese Epoche in seinen Memoiren „Notizen eines Müssiggängers“ bezeichnet. Er schreibt: „Mir hat es von jeher die Generation angetan, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebte. Sie musste sich mit der Aufklärung, der Französischen Revolution, dem Beginn der modernen Industrie, mit Napoleon […] und mit einigen bedeutenden Dichtern und Philosophen auseinandersetzen. Keineswegs eine ‚gute alte‘, aber eine geistig, politisch und ökonomisch heftig bewegte Zeit des Aufbruchs.“ (2)
Die Französische Revolution wirkt als Katalysator
Diese unwiderstehliche historische Kraft spürt Humboldt; er trifft kurz nach dem Sturm auf die Bastille in Paris ein. Das revolutionäre Geschehen mit der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechtserklärung fasziniert ihn. Es ist die Idee vom naturgegebenen Recht jedes Menschen auf Freiheit.
Die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung bleiben nicht Utopie; sie werden konkret. Kants vorrevolutionäre Frage „Was ist Aufklärung?“ und seine Antwort als der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ leuchten in die Dunkelkammern des Absolutismus: die Aufklärung als Dämmerung, die mit der amerikanischen und Französischen Revolution durchbricht und den Tag erhellt. Und Humboldt weilt vor Ort. Er erhält sogar Zugang zum Schloss von Versailles und erlebt den Umbruch hautnah.
Botschafter einer neuen Zeit
Im Oktober 1789 bricht der junge Freiherr Wilhelm von Humboldt zu einer Schweizer Reise auf. Sie führt ihn zunächst ins „Athen an der Limmat“. Zürich ist damals „für alle liberal Gesinnten und die Aufklärungshungrigen aus ganz Europa […] ein Pilgerziel“, schreibt Greter. Aus ganz Europa, gar aus Nordamerika kommen sie, die Literaten und Künstler, um „Leute von Genie und Geschmack“ zu treffen. Der freie Geist der Limmatstadt zieht auch Humboldt an. Hier sucht er Leonhard Meister auf, den berühmten Professor für Geografie und Geschichte an der Zürcher Kunstschule.
Der Publizist und Autor der „Kleine[n] Reisen durch einige Schweizer Cantone“ rät ihm zu einem Besuch des Zuger Historiographen und Generalleutnants in französischen Diensten, Beat Fidel von Zurlauben. „Eine Zelebrität und ein Curiosum der Eidgenossenschaft mit einer beeindruckenden Bibliothek“, meint Meister. Allerdings, so fügt er bei, „eine Welt von gestern! Zumindest im Blick eines Aufgeklärten von heute.“
Die alte Aristokratie scheitert an der neuen Realität
Am 9. Oktober 1789 begegnen sie sich, der aufgeklärte junge Wilde aus Berlin und die Welt von gestern in Person des pensionierten Offiziers. Beide weilten in Versailles: der eine zu Besuch bei Ludwig XVI., der andere als ehemaliger Kommandant des königlichen Garderegiments. Das ist ihr gemeinsamer Hintergrund. Doch darüber hinaus gibt es zwischen den zwei adeligen Herren wenig Verbindendes.
Heinz Greters packender Dialog zwischen Zurlauben und Humboldt führt uns zurück zum Anfang und unwiderstehlichen Aufbruch in die geistige Moderne. Darin ist uns die damalige Zeit nah. Dem statischen Geschichtsdenken des 18. Jahrhunderts – „Die Ordnung ist von Gott gegeben“, daran zweifelt Zurlauben nicht im Geringsten – folgt eine dynamische Geschichtsphilosophie: der aufklärerische Glaube an den Fortschritt, an den dauernden Prozess von Emanzipation und den progressiven Sinn der Menschheitsgeschichte. Der preussische Gelehrte lebt diese Philosophie.
Fortschritt trifft auf Verharren im Status quo
Mit seinen fortschrittlichen Gedanken stösst Humboldt auf Zurlaubens frostige Abwehr: Der alte Baron verharrt im Idyll des Rokokos und verkennt die Zeichen der Zeit. Nutzlos verhallt darum Humboldts Hinweis, dass man in der Schweiz eigentlich gar nicht so frei sei, wie es in der Tell-Geschichte zum Ausdruck komme. Zurlauben will nichts davon wissen, obwohl die damalige Eidgenossenschaft bedeutend mehr Untertanen als freie Bürger zählt. Sein rückwärtsgewandtes Denken verdeckt die Sicht auf die überkommene Realität. Er sieht nur den Verlust traditioneller Werte.
Humboldts Idealität dagegen orientiert sich an einem ganz anderen Staatsverständnis. Hintergrund sind die Ideen der Aufklärung mit ihrer Strahlkraft und dem Gewinn fürs Individuum, dazu der amerikanische Verfassungsstaat und das revolutionierte Frankreich. Der Kontrast erzeugt die grosse Faszination – in der damaligen Welt wie in der kleinen Erzählung.
Greters Skizze zeigt eines ganz prägnant: Die Menschen stehen immer zwischen Ideal und Wirklichkeit, und ohne Ideale verscherzen sie – wie der Zuger Patrizier Zurlauben – die „Wirklichkeit“. Die Wirklichkeit besteht eben aus Realität und Idealität; sie ist nicht nur materielle Realität: eine Einsicht von zeitloser Gültigkeit – und darum so aktuell.
(1) Heinz Greter: Herr von Humboldt schockiert Herrn von Zurlauben. Erzählung. Zürich: Elster-Verlag, 2017.
(2) J(ean). R(udolf). von Salis: Notizen eines Müssiggängers. Zürich: Orell Füssli Verlag, 1984, S. 42.