Sie ist 27 Jahre alt, reich und schön. Ihr Gatte, ein Offizier, erhebt sich und begleitet sie zum Hafen. Sie besteigt ein Schiff und fährt ins gegenüberliegende Evian. Der Mann glaubt, sie fahre zur Kur. Doch sie hat anderes im Sinn.
Drei Wochen später kommt ihr grosser Tag. Sie steht früh auf, schminkt sich, pudert das Gesicht und malt eine Fliege auf ihre Brust. Sie geht in die Kirche, in der an diesem 6. August König Victor Amédée von Sardinien (und Savoyen und Piemont) an der Frühmesse teilnimmt. Als er die Kirche verlässt, wirft sie sich vor seine Füsse.
All das erzählt die Westschweizer Autorin Anne Noschis in einer neuen, hervorragenden Biografie über die spätere Geliebte von Jean-Jacques Rousseau. *1) Es ist das umfangreichste und am besten recherchierte Werk über die Frau, die mit 14 verheiratet wurde und mit 27 Jahren in einem Schiff ihrem Mann davonfuhr.
Berühmte noble Frau aus Vevey
Françoise-Louise de Warens, die Protestantin aus Vevey, will katholisch werden. Auf den Knien bittet sie den katholischen Victor Amédée um Schutz und Unterstützung. „Je vous accorde l’une et j’aurai soin que vous ne manquiez pas l’autre.“ Eine Kutsche bringt sie nach Annecy in Hochsavoyen.
Der Bericht über den Kniefall verbreitet sich in Europa wie ein Lauffeuer. Die Katholiken haben einen grossen Fisch geangelt. Louis XV, der französische König, wird informiert. Ein Bote eilt zum Papst nach Rom. Auch der spanische König wird kontaktiert. In wenigen Minuten ist die noble Frau aus Vevey eine Berühmtheit.
Es ist die Zeit, da sich auf beiden Seiten des Genfersees Katholiken und Protestanten bekämpften. Genf und die damals zu Bern gehörende Waadt sind protestantisch. Savoyen, südlich des Sees, katholisch. Die Katholiken tun alles, um „die verirrten protestantischen Schafe“ in die katholische Herde zurückzuführen. Der König spielt auch mit dem Gedanken, die Waadt militärisch zu erobern. Da kommt ihm Madame de Warens gerade recht. Was für ein Leben sie vor sich hat!
“Donnerwetter“
Der Kniefall von Evian entrüstet die Berner. „Donnerwetter“, kommentieren sie. Da verlässt eine Frau aus besten Kreisen ihren Mann und ihre Familie – und das in einer Zeit, in der Frauen keinerlei Rechte haben. Auch dann nicht, wenn sie reich sind wie Madame de Warens.
„Mère universelle“ bezeichnet sie Anne Noschis. Rousseau wird so fasziniert von ihr sein, dass er den Boden küsst, auf dem sie gegangen ist. Sicher ist sie eine der ganz starken Frauen des 18. Jahrhunderts.
Françoise-Louise de la Tour, die spätere Madame de Warens, wird am 13. Juli 1726 in der Altstadt von Vevey geboren. In ihrem Geburtshaus befindet sich heute das Konservatorium. Ihr Vater ist Arzt, der Menschen und Tiere pflegt. Er experimentiert auch mit Kräutern und Medikamenten. Das wird die Tochter später auch tun. Ihre Mutter stirbt, als sie fünf Jahre alt ist.
Das reiche Waisenmädchen
Der Vater lässt das Mädchen von seinen beiden ledigen Schwestern erziehen. Diese wohnen in einem grossen Landhaus in der phantastischen Landschaft von Les Bassets, oberhalb von Montreux. Rousseau wird die Gegend später überschwänglich beschreiben. Er nimmt sie als Kulisse für seinen schmachtenden Liebesroman „Juli oder die Neue Héloise“.
Als eine der erziehenden Schwestern stirbt, kehrt Françoise nach Vevey zurück. Dort hat ihr Vater wieder geheiratet. Als sie zehn Jahre alt ist, stirbt auch der Vater. Sie ist jetzt ein reiches Waisenmädchen und wird in ein Pensionat nach Lausanne geschickt. Sie ist intelligent, vif und neugierig. Nur in Französisch ist sie schlecht. Das erstaunt umso mehr, als sie es ist, die später Rousseau richtig schreiben lehrt.
Mit 13 Jahren wird sie von ihren beiden Vormunden verheiratet. Der Auserwählte heisst Sébastien-Isaac de Loys. Er ist 25 Jahre alt, stammt aus reichem Haus und ist Hauptmann der Armee. Schnell und gut legt er seine Studien ab. In Luzern lernt er Deutsch. Er dient in der Armee in Turin und in Russland. Kurz vor der Heirat mit Françoise-Louise hatte er in London eine Beziehung zu einer andern Frau. Sie heisst S.B. – mehr weiss man nicht. Warum hat er sie nicht geheiratet? Vielleicht - so vermutet Anne Noschis -, weil sie nicht vermögend war. Doch Françoise-Louise ist vermögend.
Sie hat nichts zu sagen
Die beiden werden zusammengeführt. Er verliebt sich in sie. Sie hat nichts zu sagen. Der Heiratsvertrag fällt so aus, wie es damals üblich ist. Der Mann erhält alles. Die Frau übergibt ihm ihr ganzes Vermögen – und dieses war in diesem Fall grösser als jenes des Mannes.
Wenige Tage vor der Heirat wird Sébastien „Seigneur de Vuarens“. Dort besitzt seine Familie Ländereien. Vuarens ist ein Flecken im Waadtländer Mittelland. Doch aus dem „Seigneur de Vuarens“ wird plötzlich der „Seigneur de Warens“ – und dies deshalb, weil ein Deutschschweizer Offizier und Beamter zu wenig Französisch kann und den Namen falsch einträgt. So wird Françoise-Louise de la Tour jetzt "Madame de Warens".
Dreizehn Jahre sind die beiden verheiratet. Sie verfügen über viel Geld und geben es aus. Sie betreiben eine Seidenstrumpffabrik. Sébastien ist zwar reich, doch er gehört nicht zur allerobersten sozialen Schicht. Wieso, fragt Anne Noschis, wird die reiche, schöne und intelligente Françoise nicht einem Mann aus höchsten Kreisen verheiratet? Mögliche Antwort: Weil sie ein Waisenkind ist.
Verführt von einem Berner Bourgeois
Das Leben plätschert dahin. Teures Geschirr, Porzellan aus Japan, Einladungen, teure Wäsche, drei Diener. Der Mann ist meist bei Freunden oder auf der Jagd. Die beiden schlafen, wie damals üblich, in separaten Zimmern. Das Sexualleben ist offenbar wenig aufregend. Kinder haben die beiden keine. Wie üblich damals gibt man der Frau die Schuld. Später stellt sich heraus, dass der Mann verantwortlich ist.
Als Madame 19 Jahre alt ist, ziehen die Warens nach Lausanne. Françoise wird von jungen Männern belagert. Etienne-Sigismond de Tavel, ein Berner Bourgeois, hat Erfolg und verführt sie. Ebenso wahrscheinlich ein Pfarrer. Sie wird schwanger, bringt ein totes Kind zur Welt – wahrscheinlich aufgrund einer Abtreibung. Sie kann jetzt keine Kinder mehr kriegen. Sie ist dem Tod nahe und diktiert ihr Testament. Von wem sie schwanger war, ist unklar.
Der Ehemann merkt nichts
Mit 26 Jahren fährt sie zur Kur nach Aix-les-bains in Savoyen. Dort trifft sie eine alte Freundin, die 67-jährige Madame de Bonnevaux, die aus der katholischen Linie ihrer Familie stammt. Frau von Bonnevaux empfiehlt der religiös zweifelnden Françoise, zum Katholizismus überzutreten.
Im Juni 1726 tritt die Veveyse über die Ufer und überschwemmt das Städtchen. Hauptmann de Warens wird eingezogen und ist von früh bis spät unterwegs. Seine Frau nutzt die Gelegenheiten und packt ihre Sachen: Schmuck, Geschirr, teure Wäsche, Wertsachen, Silber, eine Matratze. Alles lässt sie auf ein Schiff im Hafen laden. Der Ehemann merkt nichts.
Auch als sie in Evian angekommen ist, glaubt er noch immer, seine stets kränkelnde Frau sei nur zur Kur dort. Sébastien ist nicht der unangenehme oder gar gewalttätige Ehemann, vor dem man fliehen muss. Er besucht sie einige Tage später. Als er sich von ihr verabschiedet, hat sie Tränen in den Augen.
“Monsieur, Sie haben keine Frau mehr“
Wie erfährt ihr Gatte, dass sie sich dem König zu Füssen geworfen hat? Einer seiner Angestellten ist soeben von Lausanne nach Vevey zurückgekehrt. Er sagt ihm: „Monsieur, sie haben keine Frau mehr“. – „Wie das?“ antwortet Sébastien. „Non, Monsieur, sie hat heute Morgen Evian verlassen und folgt dem König nach Turin… Das erzählt man sich überall in Lausanne“.
Schon früh wurden erste Biografien über das Leben von Madame de Warens geschrieben. Zu den wichtigsten Quellen gehören natürlich die „Bekenntnisse“ von Jean-Jacques Rousseau. Doch vieles blieb im Dunkeln. Immer wieder wurde sie als „Anhängsel“ von Rousseau beschrieben. Anne Noschis räumt mit diesem Klischee auf. Sie zeichnet Madame de Warens als eigenständige, vielfältige, tatkräftige und begabte Frau. Rousseau war für sie weniger wichtig, als sie für Rousseau.
Hunderte neuer Dokumente
Anne Noschis durchstöberte in fünfjähriger Arbeit Archive und Museen in den Kantonen Waadt, Genf und Neuenburg sowie in Savoyen. Sie fand Hunderte bisher unbekannter Dokumente. Diese erlauben es, ein oft neues und nuanciertes Bild vom Leben der Madame de Warens zu zeichnen.
Am 8. September 1726 schwört sie dem protestantischen Glauben ab und wird Katholikin. Vom König und den Bischöfen erhält sie eine jährliche Pension von 2500 piemontesischen Pfund. Damit ist sie sehr reich. Der Bischof von Annecy und Genf umhätschelt die noble Schöne. Ist sie wirklich so schön?
Das berühmteste Bild zeigt sie mit 28 Jahren, also ein Jahr nach der Ankunft in Annecy. Gemalt wurde es in Paris vom Porträtmaler Nicolas de Largillière, der auch Voltaire gemalt hat. Auftraggeber war der Bischof von Annecy und Genf, der das Werk bei sich zu Hause aufhängte. (Siehe Buchumschlag oben)
Rousseau, der sie ein Jahr später trifft, kennt keine schönere Frau. In seiner Lebensbeichte schreibt er. „Ich sah ein Gesicht voller Liebreiz, schöne blaue Augen voller Sanftmut, eine blendende Gesichtsfarbe, die Umrisse eines bezaubernden Busens. … Sie hatte einen sehr sanften Blick, ein engelgleiches Lächeln, einen Mund so gross wie der meinige, aschblondes Haar von ungewöhnlicher Schönheit, das sie etwas nachlässig trug, was ihr grossen Reiz verlieh … man konnte unmöglich einen schöneren Kopf, einen schöneren Busen, schönere Hände und Arme sehen“.
Jetzt, mit 27 Jahren, beginnt ihr neues Leben als Wohltäterin, Erzieherin, Musikerin, Geschäftsfrau, als Geliebte mehrerer Männer, als Spionin im Auftrag des Königs, als Alchemistin und Quacksalberin – und als Gescheiterte.
*1) Anne Noschis: Madame de Warens, éducatrice de Rousseau, espionne, femme d'affaires, liberitne
Editions de l'Aire, 2012, ISBN 978-2-940478-27-9
Siehe auch: 300 Jahre Rousseau - das Dossier