Für die nationalkonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) hat der Frühling schon mit grossen Problemen begonnen. Eine Wende hat bisher kaum stattgefunden. Die PiS versuchte zwar am Parteikonvent Mitte April mit der Ankündigung neuer sozialer Reformen wieder Terrain gutzumachen. So wurde beispielsweise für diesen Herbst eine Zulage von 300 Zloty pro Schüler für Schulmaterialien angekündigt, eine populäre Massnahme mit einiger Breitenwirkung. Allerdings waren die weitern von Premierminister Tadeusz Morawiecki angekündigten Reformen weder spektakulär noch zeitlich festgelegt.
Kaczynskis Gesundheitsprobleme
Zentrales Thema waren in der Folge die Vorbereitungen der im Herbst stattfindenden Gemeinde- und Provinzwahlen, der erste wirkliche Test für die Parteien seit den Parlamentswahlen vom Herbst 2015. Führende PiS- Politiker gingen Wochenende für Wochenende auf Werbetour. Für die wichtigsten Städte wurden von Parteichef Kaczynski Präsidentschaftskandidaten festgelegt. Und Kaczynski selbst bemühte sich, die Wahlvorbereitungen in den Provinzen in Schwung zu bringen.
Dann erlahmten allerdings seine Bemühungen, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Kaczynski bekam immer grössere Knieprobleme und musste sich schliesslich in einem Spital behandeln lassen. PiS- Politiker versuchten die Sache herunterzuspielen und sprachen immer wieder von einer baldigen Entlassung. Sitzungen und Entscheide wurden vertagt. Sachliche Informationen gelangten kaum oder nur häppchenweise an die Öffentlichkeit. Das förderte auch Spekulationen aller Art, bis hin zu Gerüchten von einer Krebskrankheit. Dass Kaczynski schliesslich eine Operation am Knie machen lassen musste, wurde durch einen Versprecher eines PiS-Politikers erstmals publik.
Nachfolgespekulationen
Die ganze Kniegeschichte zeigt in aller Deutlichkeit, wie zentral die Rolle Kaczynskis in der gesamten Politmechanik des PiS-Regimes ist. Und es ist kein Zufall, dass sein effektiver Gesundheitszustand fast wie ein Staatsgeheimnis unter Verschluss gehalten wurde. Sein Parteichef-Stellvertreter sagte vor kurzem, Kaczynski werde ungefähr in zwei Wochen das Spital verlassen, könne aber jetzt schon die ganze Zeit telefonisch konsultiert werden.
In den Medien wurde bereits über mögliche Nachfolgeszenarien spekuliert. Unisono widersprachen führende PiS-Politiker allen Mutmassungen über einen baldigen Rücktritt. Sicher ist, dass hinter den Kulissen schon längere Zeit um günstige Ausgangspositionen gerangelt wird und diese Kämpfe nun noch mehr an Intensität zulegen werden.
Seit der Regierungsumbildung von Anfang Jahr sind die Risse in der PiS auch deutlicher hervorgetreten. Personelle Rivalitäten spielten dabei ein grössere Rolle als inhaltliche Unterschiede. Kürzlich wurde eine Meinungsumfrage durchgeführt, wer denn Kaczynski nach einem Rücktritt ersetzen sollte. An erster Stelle wurde Premierminister Morawiecki, genannt, allerdings mit relativ geringem Vorsprung auf weitere Kandidaten wie Kaczynskis Stellvertreter Joachim Brudzinski und die frühere Premierministerin Beata Szydlo. Diese vertreten etwas unterschiedliche Richtungen. Während Morawiecki eher einen etwas moderateren technokratischeren Ansatz vertritt, sind Brudzinski und Szydlo klassische nationalkonservative PiS-Politiker.
Verschärfung des rigiden Abtreibungsgesetzes?
Obwohl eine gewisse Unsicherheit besteht, ist es wahrscheinlich, dass Kaczynski bald wieder auf die politische Bühne zurückkehrt. Allerdings erwarten ihn unangenehme alte Probleme.
Ein wichtiges Thema bleibt die Abtreibungsfrage. Das von traditionalistischen Katholiken eingereichte Bürgerprojekt für eine weitere Verschärfung des sonst schon rigiden Abtreibungsgesetzes wurde Ende März vorläufig auf Eis gelegt. Dazu hatte eine beachtliche Mobilisierung für einen landesweiten Protesttag beigetragen. Vor allem aber scheint die PiS aus wahltaktischen Gründen, das heisse Eisen möglichst lange nicht mehr anfassen zu wollen.
Denn nur eine kleine Minderheit hat sich in Umfragen für eine Verschärfung ausgesprochen. Eine kürzliche Umfrage ergab sogar eine relative Mehrheit für eine Fristenlösung. Das Beispiel der Volksabstimmung im erzkatholischen Irland dürfte ebenfalls die Stimmung beeinflussen. Allerdings steckt die PiS in einem Dilemma. Je länger sie zuwartet, umso mehr wächst die Unzufriedenheit unter den Befürwortern, einer wichtigen Anhängerschaft der Partei.
„Repolonisierung“ privater Medien aufgeschoben
Ein weiteres aufgeschobenes Projekt ist die strategisch wichtige „Repolonisierung“ privater Medien, die bis jetzt eher neutral oder kritisch zum PiS- Regime eingestellt sind. Trotz der von der PiS kontrollierten staatlichen Medien haben diese immer noch eine dominierende Stellung inne, ganz im Gegensatz etwa zu Orbans Ungarn. Ein Gesetzesentwurf hätte eigentlich diesen Frühling aufs Tapet gebracht werden sollen.Vorläufig ist weiterhin Funkstille angesagt.
Dauerkonflikt mit der EU- Kommission
Ein Dauerbrenner sind die Konflikte mit der EU-Kommission. Die Auflagen gegen die umstrittenen Justizreformen wurden nicht befolgt. Das Verfahren nach Artikel 7 läuft deshalb weiter. Es wurden zwar im April Gesetzesänderungen verabschiedet, die aber nicht viel mehr als kosmetische Reformen beinhalten. Die Kommission begrüsste diese, beurteilte sie aber als ungenügend. Es wird weiter verhandelt und Polens Regierung gibt sich immer noch optimistisch, dass man einen Durchbruch erzielen könne.
Selbst wenn das Verfahren weitergeführt wird, droht Polen kaum die angedrohte Sanktion - das Stimmrecht - zu verlieren. Denn letztlich müssten alle Mitgliedstaaten zustimmen. Schmerzhaft wären aber finanzielle Konsequenzen, die einige Länder in Zukunft für Verlagsverletzungen anstreben. Allerdings haben solche Pläne kaum Realisierungschancen.
Der grosse Kampf in der EU wird um die Finanzen für die nächste Planperiode gehen. Polen wehrt sich jetzt schon heftig gegen geplante Kürzungen, die beim Kohäsionsfond rund ein Viertel der bisherigen Zuflüsse ausmachen könnten.
Protestaktion von Behinderten im Sejm
Mit einem Problem wird sich Kaczynski nach seinem Comeback nicht mehr beschäftigen müssen, der Besetzung einer Wandelhalle im Sejm durch Schwerbehinderte und ihre BetreuerInnen. Das war in den letzten sechs Wochen ein zentrales Medienthema und beschäftigte Regierung und Parlament. So lange nämlich dauerte die Besetzungsaktion von gut einem Dutzend Protestierenden.
Die Entschlossenheit und Ausdauer, welche die Protestierenden an den Tag legten, hatte vor allen damit zu tun, dass die grossen Probleme der Schwerbehinderten seit der Wende von keiner Regierung ernsthaft angegangen wurden. Die Protestierenden gingen geschickt vor, indem sie zwei klare Forderungen stellten: eine Angleichung der Rente an das Niveau der Minimalrente der aus dem Arbeitsprozess Ausgeschiedenen und die Einführung einer Zusatzentschädigung von 500 Zloty für Personen, die nach dem 18. Altersjahr nicht selbständig existieren können. Damit wäre die miserable finanzielle Situation von etwa 200’000 Betroffenen deutlich verbessert worden.
Die Aktion fand in den Medien schnell ein grosses Echo und Sympathien in der breiten Bevölkerung. Die Opposition unterstützte die Forderungen. Die Regierung geriet unter Zugzwang und die Sozialministerin führte Gespräche mit den Protestierenden. Die erste Forderung nach einer Rentenangleichung wurde schnell akzeptiert und durch das Parlament gesetzlich verankert. Sie beinhaltete aber nur eine Verbesserung von 155 Zloty.
Kein weiteres Nachgeben
Auf die zweite wichtigere Forderung wollte die Regierung allerdings nicht eingehen. Sie schlug nur eine Verbesserungvon Sachleistungen vor, die nach ihren Angaben etwas mehr als die geforderten 500 Zloty hätten ausmachen sollen. Ein entsprechendes Gesetz wurde von der PiS-Mehrheit durchgedrückt. Die Protestierenden beharrten aber auf ihrer Forderung. Sie wollten Cash und nicht abstrakte Leistungsversprechungen.
Nun ging ein langwieriges Gerangel los. Die Regierung schickte mehrmals ihre Sozialministerin vor, welche die Position der Regierung verteidigte. Auch der Ministerpräsident und weitere hohe Politiker versuchten die Protestierenden zum Einlenken zu bewegen. Die PiS spielte auf Zeit, ging nicht auf Kompromissangebote ein. Sie wollte wohl vor allem nicht als Verlierer vom Platz gehen. Eine Räumung kam aus Furcht vor einem grossen Imageschaden auch nicht in Frage, wie kürzlich ein hoher PIS Politiker bestätigte. Denn 87 Prozent unterstützen in einer Umfrage das Anliegen der Protestierenden.
Die Polen sind zwar aufgrund ihrer Geschichte Individualisten, haben aber auch ein ausgepägtes Verständnis für gerechtfertigte Proteste und Solidaritätsaktionen.
Die Situation spitzte sich auf das letzte Wochenende zu. Parlamentsabgeordnete aus allen NATO- Ländern solltenim Sejm eine Konferenz abhalten. Als die Protestierenden Transparente aus dem Fenster hängen wollten, schritt der Wachdienst ein und es kam zu einem eigentlichen Gerangel. Einen Tag später gaben die Protestierenden auf und kritisierten den Einsatz des Wachdienstes und die Unnachgiebigkeit der Regierung.
Schaden für die PiS?
Wie weit die ganze Geschichte der PiS geschadet hat, istschwer abzuschätzen. In einer Wahlumfrage von letzter Woche war nur ein geringer Verlust von zwei Prozent gegenüber einer Umfrage des gleichen Institutes von Mitte Mai verzeichnet worden. Aber auch die grösste Oppositionspartei, die PO (Bürgerverständigung) verlor leicht an Rückhalt. Und da die PiS im April wieder etwas dazu gewonnen hatte, war sie in allen Mai-Umfragen die deutlich stärkste Partei mit rund 38 Prozent.
Dass die PO als ehemalige Regierungspartei nicht zulegen konnte, ist verständlich. Sie hatte an der Macht nicht mehr für die Behinderten getan als die PiS. Allerdings hat sich die Opposition insgesamt eher konsolidieren können und arbeitet etwas besser zusammen. Die Probleme der PiS gaben ihr auch mehr Auftrieb und Zuversicht. Polenspolitische Zukunft erscheint weiterhin offen.
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