In meiner letzten Kolumne schrieb ich über die Illusion des Wissens, die durch eine entsprechende Technologie erzeugt werden könne. Genauer gesehen müsste man von einem Verstärkungseffekt sprechen, denn die Illusion verweist auf ein viel älteres menschliches Phänomen, das freilich durch die digitalen Technologien auch eine neue Bedeutung und Brisanz gewinnt: auf den sprichwörtlichen blinden Fleck, der sich selbst nicht sieht; den Ignoranten, der nicht weiss, dass er ignorant ist; den Inkompetenten, der sich seiner Inkompetenz nicht bewusst ist - kurz: Inkompetenzerkennungsinkompetenz.
Anosognosie
Das Phänomen ist in der Neurologie bekannt unter der Bezeichnung der Anosognosie. Ein Beispiel: Nach einem Schlaganfall in ihrer rechten Gehirnhälfte leiden Anosognosie-Patienten an einer Lähmung ihres linken Armes, die ihnen nicht bewusst ist. Anosognosie verursacht nicht nur die Lähmung, sondern gleichzeitig die Unfähigkeit, die eigene Gelähmtheit zu erkennen. Legt man einem Betroffenen einen Bleistift auf den Tisch und fordert ihn auf, danach zu greifen, wird er es körperlich bedingt nicht tun. Er wird aber sagen, er sei zu müde oder benötige keinen Bleistift. Sein Unvermögen alarmiert ihn also nicht.
Das Gehirn hat einen neuronalen Monitor, der, wenn beschädigt, zu einem partiellen Ausfall der Wahrnehmung führen kann: ein „hemisphärischer Neglect“ („hemispatial neglect“). Betroffene Patienten können einen Teil ihrer Umgebung buchstäblich nicht mehr wahrnehmen. Männer rasieren zum Beispiel nur die eine Gesichtshälfte; oder die Betroffenen essen nur die eine Hälfte des servierten Essens, und sie beklagen sich, zu wenig zu bekommen.
Ein skurriler Banküberfall: Der Dunning-Kruger-Effekt
Das Phänomen gibt es auch im Bereich des Kognitiven. Es wurde 1999 vom Sozialpsychologen David Dunning und seinem Schüler Justin Kruger untersucht und hat unter der Bezeichnung „Dunning-Kruger-Effekt“ Eingang in die psychologische Fachliteratur gefunden. Der Titel der Studie sagt eigentlich schon alles: „Unqualifiziert und dessen unbewusst: Wie Schwierigkeiten, die eigene Inkompetenz zu erkennen, zu einem aufgeblähten Selbsteinschätzung führen.“
Was Dunning und Kruger irritierte, war der Umstand, dass viele Leute von ihrer Inkompetenz nicht irritiert sind; nicht verlegen, bescheiden oder vorsichtig geworden – im Gegenteil: Oft ist die Inkompetenz begleitet von einer unangemessenen, fallweise geradezu lachhaften Selbstgewissheit. So war die Initialzündung zu ihrer Studie ein Bankraub in Pittsburg im Jahre 1995, der an Filmklamauk erinnert. Ein Mann namens McArthur Wheeler überfiel kurz nacheinander zwei Banken am hellichten Tage. Unbeschadet jeglicher Vorsichtsmassnahme, wie es schien, denn er hatte nicht vorgesehen, in der kameraüberwachten Schalterhalle sein Gesicht zu tarnen. Er wurde noch am gleichen Abend dank der Kameraufnahmen verhaftet.
Für Heiterkeit sorgte Wheelers unbeirrte Meinung, sein Gesicht sei durch Einreiben mit Zitronensaft für die Kameras unsichtbar. Er habe seine „Hypothese“ zuhause selber überprüft. Der Banküberfall falsifizierte sie freilich schnell und brutal. Eine trübe Tasse von Räuber, wird man sagen. Dunning und Kruger sahen darin mehr, nämlich einen Typus von kognitiver Verzerrung: Wheeler war der Meinung, etwas Richtiges zu tun, und er zeigte sich offenbar unfähig, die Falschheit seiner Meinung einzusehen.
Falsche Selbsteinschätzung
Die digitalen Medien verschaffen heute auf beispiellose Weise leichten und schnellen Zugang zu den Datenbanken. Googeln und Wikipedia-Anklicken gehören schon zu den neuen Kulturtechniken. Die scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit von Information kann allerdings dazu verleiten, Zugang zum Wissen mit Wissen zu verwechseln. Anders gesagt, lauert auch hier der Dunning-Kruger-Effekt der falschen Einschätzung. Das Problem ist ein meta-kognitives: Die Möglichkeit, sich Wissen über das Internet zu beschaffen, erhöht auch das Risiko der Halbbildung, also der Konsumation von halbgaren Theorien und ungeprüften oder schlecht geprüften Hypothesen wie jener des Zitronensaftes.
Die Tests, die Dunning und Kruger mit Studenten durchführten, zeigten einen deutlichen Zusammenhang: Jene, die am schlechtesten bei gewissen Aufgabenbewältigungen abschnitten, wussten auch ihre eigene Inkompetenz am schlechtesten einzuschätzen. Nun waren die Tests nicht direkt auf die digitalen Medien ausgerichtet. Aber man darf vermuten, dass die Dienste des Internets manch einen User dazu verleiten, seine Selbsteinschätzung falsch zu kalibrieren, das heisst, sich in der Meinung zu wiegen, er sei kompetent nur schon deswegen, weil er mit der entsprechenden Technik ausgerüstet ist.
Inkompetenzerkennungskompetenz
Nehmen wir als Beispiel den Orientierungssinn. Er wird heute immer mehr durch Navigations-Apps ergänzt und tendenziell ersetzt. Genau diese Tendenz manifestiert die Ambivalenz der Technologie. Dank ihr können wir uns viel schneller und zielführender im Gelände orientieren. Aber wir sollten dies nicht als verbesserte Orientierungskompetenz missverstehen. Oder vielmehr: das Missverständnis entsteht dann, wenn wir nicht gleichzeitig in uns selber die Geländekenntnis vertiefen, also eine entsprechende Kompetenz ausbilden. Das könnte durchaus als Chance angesehen werden: nämlich sich einzugestehen, dass man im Grunde etwas noch nicht weiss, wenn man es in Wikipedia nachgefragt hat; oder etwas noch nicht kann, wenn man über eine entsprechende App verfügt.
Der Philosoph Odo Marquard hat einmal – halb im Ernst – von der Philosophie als einer Inkompetenzkompensationskompetenz gesprochen. Eine solche Fähigkeit des Eingeständnisses stünde uns gar nicht so schlecht an in einer Zeit, die von uns bis in die hintersten Lebensnischen Kompetenzen abfordert. Warum also nicht eine Inkompetenzerkennungskompetenz? Sie würde zuallererst bedeuten, dass wir neben dem Abfragen in den digitalen Medien auch wieder das Fragen lernen, also das, was uns menschlich macht.
Die gesellschaftlichen Folgen
Sie ist noch aus einem weiteren Grund wichtig. Denn unter Inkompetenz leiden in der Regel die anderen, nicht der Inkompetente. Sitzt er in einem Entscheidungsknoten im sozialen, politischen, wirtschaftlichen Netzwerk, kann sein Handeln ärgerliche bis schädliche Folgen haben. Und Ursache ist nicht einfach sein Fehlentscheid, vielmehr die Fehleinschätzung seines Fehlentscheids. Es wäre aufschlussreich und wahrscheinlich ziemlich ernüchternd, unter dem Aspekt des Dunning-Kruger-Effekts einmal eine genauere Analyse des ganzen Rattenschwanzes von Krisen und Kalamitäten aus unserer rezenten Geschichte durchzuführen. Also die Frage zu stellen: Ist die Selbsteinschätzung all der Fiasko-Spezialisten, die sich ihrer Kompetenzen auch noch rühmen, nachdem sie uns in den Dreck gesetzt haben, nicht falsch kalibriert? - Meine Hypothese: Viele sind vom Schlag des Bankräubers Wheeler. Und der Ruf wäre angebracht: Schaut doch, ihre Gesichter sind mit „Zitronensaft“ eingerieben, aber sie sind trotzdem kenntlich!