„Wie kann man ein solches Zelt aus Beton für eine Kirche halten? Eine Schande! Ja, eine Sünde!“. So und ähnlich tönt es im biedermeierlich-braven Städtchen Zug der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Auch wenn Grossvater zu Besuch weilt. Die Wogen gehen hoch, der Aufschrei ist weithin hörbar, der Streit überaus heftig. Schuld an diesen „Theatrum Sacrum“, wie es der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann nennt, sind vor allem Ferdinand Gehrs moderne Wandmalereien und seine neue kirchliche Bildsprache. Während mehrerer Jahre verschwinden sie hinter schweren Vorhängen. Kunst wird verbannt, aber nicht übermalt.
Konkretisierung avantgardistischer Ideen
Gemeint ist die Pfarrkirche Bruder Klaus von Oberwil b. Zug, erbaut 1953–1956 und ausgeschmückt mit Gehrs Gemälden. Mit diesem ungewohnten Bau schafft Hanns A. Brütsch – in der Architektengemeinschaft mit Alois Stadler – einen Meilenstein in der sakralen Architektur der Schweiz. Bereits Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) realisiert er mit diesem Schlüsselwerk neue liturgische Praktiken. Mit dem „Zelt Gottes“, so nennt Brütsch sein Wettbewerbsprojekt, betont er – räumlich – die Gemeinschaft von Priester und Gläubigen. Sein Kirchenraum gehört zu den fortschrittlichsten in ganz Europa. Der Bau wird international rasch bekannt – und damit auch Hanns A. Brütsch.
Brütsch zählt zu den wichtigsten Zuger Architekten des 20. Jahrhunderts. Eine reichhaltige Monografie erinnert nun an das Wirken und die Werke dieses überaus kreativen Baukünstlers. Konkretisiert hat es der ehemalige Zuger Denkmalpfleger und Kunsthistoriker Heinz Horat. Für die Edition verantwortlich zeichnen das Bauforum Zug und Ruedi Zai, selber Architekt und aufgewachsen in einem Brütsch-Haus. [1] Die Gestalterin Regula Meier und der Bildbearbeiter Benni Weiss, beide aus Zug, lassen die Lektüre auch zu einem haptischen und ästhetischen Erlebnis werden.
Überaus aktiver und kreativer architektonischer Gestalter
Hanns Anton Brütsch (1916–1997) war ein zeichnender Architekt, der seine Entwürfe skizzierte und in Plastikmodellen knetete. „Berechnungen lagen ihm fern. Das führte in seinem Architekturbüro zu schwierigen Situationen, weil viele Wettbewerbe gemacht wurden“, schreibt sein Sohn und ergänzt: „Die Mitarbeiter brachten die Entwürfe zu Papier und kalkulierten sie, und kurz vor der Abgabe kam der Chef mit Verbesserungen, sodass alles auf den Kopf gestellt werden musste. Vielleicht war er gerade darum so erfolgreich.“ [2]
Wie erfolgreich Hanns A. Brütsch war, zeigt ein Blick ins reiche und weite (Lebens-)Werkverzeichnis. Es umfasst 75 Objekte, darunter 15 Kirchen, fünf Spitäler und Kurhäuser, acht Schulen, 18 Neugestaltungen und Renovationen, acht Geschäftshäuser und Fabriken, ja sogar eine Flusspasserelle, die Chamer Hirsgartenbrücke von 1949.
Baukunst in der Menzinger Moränenlandschaft
Brütschs kreative Vielfalt erstaunt: Einerseits schuf er 20 Einfamilienhäuser, anderseits überraschte er mit seinen städtebaulichen Visionen. In hübsche Bauerndörfer hinein baute er gemütliche Schulhäuser, teilweise im Landi-Stil, und gleichzeitig entwarf er Hochhäuser mit 15 Stockwerken. Sein wichtigster Kollege und Konkurrent auf dem Platz Zug, Architekt Leo Hafner, sagte über ihn: „Seine Bauwerke signalisieren klare Gesamtkonzepte, Liebe zur grossen Ordnung, auch zur sachgerechten Detailpflege.“ [3]
Schweizweit seinesgleichen sucht der monumentale Schulcampus auf der grünen Wiese in der Menzinger Moränenlandschaft. Es ist der Neubau des Lehrerinnenseminars Bernarda, der heutigen Kantonsschule Menzingen. Auftraggeberin war die franziskanische Schwesternkongregation vom Heiligen Kreuz in Menzingen. Entstanden ist in den Jahren 1956 bis 1958 ein Ensemble von fünf Baukörpern: das Schulgebäude, die Mensa, der Wohntrakt mit laubenartigen Balkonen, Aula und Kapelle, die Turnhalle. Jeder der fünf Bauten hat seine eigene Grösse und Gestalt; miteinander verbunden sind sie durch verglaste Verbindungsgänge. Sie bilden eine einheitliche, dramaturgisch komponierte Anlage. Mit seinem Ensemble realisiert Brütsch einen eindrücklichen pädagogischen Lern- und Lebensraum, und gleichzeitig weist sein architektonischer Ausdruck weit in die Zukunft. [4]
Zeitgemässes und doch zukunftsweisendes Bauen
„Stabilität, Nützlichkeit und Schönheit sind immer zu erfüllen.“ So lautet eine alte Bauernregel. Dieser Trias fühlt sich auch Hanns A. Brütsch verpflichtet. Gutes Bauen und gute Qualität sind ihm das wichtigste Anliegen, schreibt der ehemalige Zuger Stadtarchitekt Fritz Wagner. [5]
Die sorgfältig konzipierte und lesenswerte Monografie zeigt diesen visionären Architekten mit dem feinen Gespür für vorausschauendes und zukunftsweisendes Bauen. Den Autor dieser Zeilen erinnert die Schrift auch an den erbitterten Oberwiler Kirchenstreit, den Disput um die Gehr-Gemälde in Brütschs grossem Gotteszelt. Den Rosenkranz gebetet aber hat er nicht, wie es in Zug da und dort der Fall gewesen ist. Das gemeinsame Gebet hätte die Bilder zum Verschwinden bringen sollen. Sie sind geblieben. Nicht umsonst gibt es den Begriff der „ars longa“. Dieses Wort gilt auch für Hanns A. Brütschs Werke. Die umsichtige und reich bebilderte Publikation erhellt sein vielseitiges Schaffen.
[1] Hanns Anton Brütsch (2021). Architekt BSA SIA. Eine Monographie von Heinz Horat. Hrsg. von Ruedi Zai und dem Bauforum Zug. Zug: Kalt Medien AG, 204 S., CHF 59.-- oder zum Abholpreis von CHF 47.-- beim Herausgeber.
[2] A.a.O., S. 15.
[3] A.a.O., S. 6.
[4] Zeitzeichen (2018). Bilden und Bauen auf der Höhe der Zeit. Kantonsschule Menzingen KSM. Zug: Kalt Medien AG, S. 26.
[5] Hanns Anton Brütsch (2021), S. 5.