Viele kennen ihn aus „Das Buch des Vaters“, und wer in Basel in den Fünfziger- und Sechzigerjahren das Gymnasium besucht hat auch als Französischlehrer und Verfasser des zweibändigen Schulbuches „Pas à pas“: WW alias Walter Widmer. In den Büchern des Sohnes ist er eher eine tragische Figur, führte eine unglückliche Ehe und versuchte es in der Partei der Arbeit halbherzig mit der Politik.
Mehr als ein Französischlehrer
Auch wenn Vater Walter längst hinter dem Schatten seines erfolgreichen Sohnes verschwunden scheint, zu seiner Zeit war er eine stadtbekannte und in seiner besonderen Art geachtete Persönlichkeit. Zugegeben, französisch Sprechen hat man bei ihm nicht gelernt. Die französische Literatur vermittelte er seinen Schülern in Form seiner eigenen wortgewaltigen Übersetzungen, die von Rabelais über Stendhal bis Zola reichen.
Statt um Literatur ging es manchmal auch um die Finessen der französischen Grammatik. Typischerweise begannen solche Stunden mit einem von WW an die Wandtafel gemalten Satz wie „Der Bauchredner hätte geschmunzelt, wäre ihm die blonde Dame in der durchsichtigen Bluse beim Betreten der Zirkusarena aufgefallen.“ Wenn dann nach 45 Minuten die durchdringende Glocke des Realgymnasiums das Ende der Lektion ankündigte, hatte man den Satz vielleicht zur Hälfte übersetzt, aber unterdessen spannende Reisen in die entlegensten Winkel der französischen Sprache gemacht – auf Deutsch natürlich – und genau jene Wörter für immer im Kopf gespeichert (wie le ventriloque und diaphane), welche man bestimmt niemals mehr im Leben brauchen würde.
Literarische Abende am Basler Realgymnasium
Heutigen Didaktikern werden die Haare zu Berge stehen. WW hätte im heutigen Schulbetrieb kaum noch Überlebenschancen. Mir aber hat er damals die Türe zur Welt der Literatur geöffnet und die Lust am Wort geweckt. Ist nicht dies das Edelste, was ein Lehrer geben kann, Interesse zu wecken, in welchem Gebiet auch immer? Alle folgten sie, die deutschsprachigen Schriftsteller jener Zeit, den Einladungen von WW an die Literarischen Abende am RG. Oft begegneten wir den berühmten Leuten vor der Abendveranstaltungen in unserem Klassenzimmer zu ganz persönlichen Diskussionen. Heinrich Böll stand mehrmals bei uns am Lehrerpult.
Aushilfslehrer für die Maturität
Im Herbst 1961, ein paar Monate vor unserer Matur, erkrankte WW ernsthaft. Eines Tages erschien in unserem Klassenzimmer sein Sohn Urs, damals Student in französischer Sprache. Er kannte die unkonventionellen Unterrichtsmethoden seines Vaters und wusste daher um die schwierige Aufgabe, MMs Zöglinge durch die französische Maturitätsprüfung zu bringen. Aber er hielt zu uns und wir zu ihm.
Nach der Lektüre seiner Jugenderinnerungen „Reise an den Rand des Universums“ schrieb ich im letzten September Urs Widmer einen Brief, um mit ihm die Erinnerungen an seinen Vater zu teilen.
Aus dem Brief an Urs Widmer
(...) Er [WW] und Hans Gutmann, den wir Benny Goodman nannten, sind jene zwei Lehrer aus dem RG, die auf mein Leben einen nachhaltigen Einfluss hatten, Gutmann, weil er mir die Faszination für die Mathematik vermittelte, die ich dann in der theoretischen Physik wieder fand, dein Vater, weil er mir die Weltliteratur zum spannenden Abenteuer machte. Zwar haben wir bei ihm kein Französisch gelernt – ich habe mich später jahrelang durchgemogelt, auf meinen Kanalfahrten in Frankreich ein bisschen ‚le français des éclusiers’ eingeübt, aber richtig erwischt hat es mich erst, als ich 2005 Präsident des Forschungsrates des SNF wurde und mich vor den Rektoren der Genfer und Lausanner nicht blamieren durfte. Da habe ich, Walter Widmer hin oder her, drauf los parliert, anfangs tausend Fehler gemacht, aber so endlich diese Sprache akzeptiert und schätzen gelernt. Heute weiss ich: Es ist nie zu spät um Französisch zu lernen, und Personen gibt es genug, welche dazu Lehrer sein können. Aber das, was mir dein Vater mitgegeben hat, war einzigartig, und niemand hätte ihn dabei ersetzen können. Wenn ich nur an seine literarischen Abende denke, an die direkten Kontakte zu Leuten wie Böll, Zwerenz, O.F. Walter, Hanns-Dieter Hüsch und wie sie alle heissen, die manchmal auch ins Klassenzimmer kamen. Erst viel später wurde mir bewusst, wie privilegiert wir waren.
Doch wenn ich an deinen Vater denke, dann mischt sich in die Dankbarkeit auch eine gewisse Traurigkeit. Natürlich war er witzig, machte seine Sprüche und schien über den Dingen zu stehen, aber wir spürten sehr wohl, dass unter der Oberfläche etwas anderes war, eine Verletzlichkeit oder ein Verletztsein, das er mit seinem Humor (oder eher mit seinem Sarkasmus) nur ungenügend zu schützen vermochte. Das wirst du als sein Sohn sicher weit deutlicher gespürt haben. Ich erinnere mich an eine letzte Stunde vor Weihnachten, als es unter der Lehrerschaft üblich war, mit etwas Besonderem aufzuwarten. Benny Goodman las chinesische Märchen, auch das ein Blick in eine besondere Seele, dein Vater aus seinen Übersetzungen der französischen Literatur (Rabelais’ Gargantua hatte es ihm besonders angetan). Einmal las er eigene Kurzgeschichten vor (eine hiess ‚Der Braunschweiger’, wenn ich mich richtig erinnere), aber er tat es mit einer gewissen Verschämtheit, als ob er sich dafür entschuldigen wollte, für einmal nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Autor aufzutreten.
In einem sehr direkten Sinn, so kommt es mir vor, hast du als erfolgreicher Schriftsteller den Traum deines Vaters zu Ende geträumt, aber er konnte es nicht mehr erleben.
Kaum eine Woche später. Ich wusste damals nichts von Urs’ Krankheit, kam seine Antwort: Lieber Dieter, herzlichen, sehr herzlichen Dank für deinen Brief, für das, was du zu meinem Buch sagst, und sehr und fast vor allem, was dir von meinem Vater in Erinnerung geblieben ist. (...)
Nun ist auch Urs zur Erinnerung geworden. Für mich verschmelzen sie, der einsame Querkopf Walter und der lebensharmonische Urs, zu einem untrennbaren Paar, das meine Jugend entscheidend geprägt hat. Beide lebten sie im Rahmen ihrer sehr unterschiedlichen Veranlagungen und Möglichkeiten ihre Leidenschaft für die Sprache und für die Welt der unbegrenzten Fantasie. Sie gaben diese Liebe weiter an jene Menschen, welche ihnen – persönlich oder über ihre Bücher - begegneten. Dank euch beiden, Walter und Urs.