Trumps Wahlsieg ist kein gutes Omen für die Ukraine, darin stimmen die meisten Beobachter überein. Aber unbestritten ist auch seine Unberechenbarkeit. Das bietet vage Ansatzpunkte zu Spekulationen, dass er auf Putins Vorstellung von einem Diktatfrieden doch nicht so einfach einschwenken wird. Und was haben Trump und Musk bei ihrem gemeinsamen Anruf bei Selenskyj besprochen?
Wenn man den Ukraine-Krieg als einen Kampf zwischen David und Goliath definiere, so sei Goliath gegenwärtig am Gewinnen, schreibt der renommierte britische Historiker und Europakenner Timothy Garton Ash unlängst in der «New York Review of Books». Der Autor berichtet von seiner sechsten Reise in die Ukraine seit Beginn der russischen Invasion in das Nachbarland. Er sah sich auch in Charkiw um, der zweitgrössten Stadt des Landes, nur 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, und stellte fest, dass deren Infrastruktur durch die pausenlosen feindlichen Luftangriffe systematisch zerstört wird. «Wir warten auf ein Wunder», sagte der militärische Geheimdienstchef dem Besucher in Kiew. Ein Wahlsieg von Donald Trump in den USA, meinte Garton Ash am Schluss seines Berichts, würde wohl die prekäre Lage der Ukraine noch düsterer aussehen lassen.
Gerüchte und Spekulationen
Inzwischen ist Trumps Wahl zum neuen amerikanischen Präsidenten Tatsache geworden. Liberale Kommentatoren in den USA selber, Regierungskreise in Kiew und politische Auguren weitherum in Europa stimmen mit den Befürchtungen von Garton Ash über die Folgen dieser Weichenstellung in Washington für das Schicksal der Ukraine weitgehend überein. Trump selber hatte schon während seiner ersten Präsidentschaft erkennen lassen, dass ihn das flächenmässig grösste Land Europas höchstens als Spielfigur im innenpolitischen Machtkampf gegen seinen demokratischen Rivalen Joe Biden interessierte. Und aus dem zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf bleibt zum Thema Ukraine vor allem Trumps pompöse Ansage in Erinnerung, er werde nach seiner Wahl noch vor dem Einzug ins Weisse Haus «innerhalb von 24 Stunden» eine Kompromisslösung zwischen Kiew und Moskau zustande bringen.
Wie der neue und alte Präsident dieses Kunststück in die Realität umsetzen will, darüber schwirren in den Medien nun die vielfältigsten Informationen und Spekulationen aus angeblich Trump-nahen Quellen herum. So will das konservative «Wall Street Journal» erfahren haben, dass Trump sich mit Putin über einen Waffenstillstand verständigen wolle. Dazu soll die Einrichtung einer Pufferzone entlang der rund 1300 Kilometer langen Kampffront in der Ostukraine gehören. Diese Pufferzone soll dann von europäischen und britischen Truppen kontrolliert werden. Ausserdem soll die Ukraine sich für mindestens zehn Jahre als Nicht-Nato-Land verpflichten.
Ob im Trump-Lager tatsächlich derartige Pläne gewälzt werden, ist völlig ungewiss. Mit Gewissheit aber kann man heute sagen, dass weder die Regierung Selenskyj noch die europäischen Nato-Verbündeten ohne weiteres solche Vorstellungen, die de facto auf den Verlust der Donbass-Region und auf den Verzicht von Sicherheitsgarantien für die Ukraine hinauslaufen würden, akzeptieren werden – schon gar nicht innerhalb von 24 Stunden.
Trump und Musk am Telefon mit Selenskj
Absolut unklar ist vorderhand ebenso, ob man in Moskau an einem Waffenstilland in der Ukraine überhaupt interessiert ist, nachdem die russischen Truppen seit einiger Zeit an verschiedenen Frontabschnitten einige Geländegewinne erzielt haben. Nichts deutet jedenfalls bisher auf vertiefte Kontakte zu diesem Thema zwischen dem Kreml und dem Trump-Lager hin. Putins Sprecher hat inzwischen Meldungen über ein Telefongespräch zwischen Trump nach dessen Wahl und seinem Boss entschieden dementiert.
Das bisher einzig konkrete Signal Trumps in Sachen Ukraine ist sein bestätigtes Telefongespräch mit Präsident Selenskyj vom 6. November, also noch am gleichen Tag, an dem sein Wahlsieg verkündet worden ist. Was ihn wohl dazu bewogen hat, am Tag seines grössten politischen Triumpfes ausgerechnet den ukrainischen Staatschef anzurufen, für den er zuvor weder persönlich noch für dessen Politik Sympathien hatte erkennen lassen? Ist diese unerwartete Geste ein Indiz dafür, dass Trump die kardinale Bedeutung der Ukraine-Frage für die Glaubwürdigkeit Amerikas, den Zusammenhalt mit Europa und den Ruf seiner zweiten Präsidentschaft vielleicht erkannt hat? Man kann darüber nur rätseln.
Das gilt ebenso für die nicht minder erstaunliche Tatsache, dass bei diesem überraschenden Anruf aus Trumps Hauptquartier in Florida der Tech-Tycoon und Multimilliardär Elon Musk dabei war. Auch dazu würde man gern erfahren, was Musk dem ukrainischen Präsidenten zu sagen hatte. Der Tech-Unternehmer hatte nach Beginn des russischen Angriffskrieges der Ukraine kostenlos Tausende von Starlink-Apparaten zur Verfügung gestellt, die es den kämpfenden Truppen ermöglichten, untereinander per Internetverbindungen zu kommunizieren. Diese wertvolle Unterstützung hat Musk später allerdings teilweise wieder eingeschränkt. Er liess sich dafür von der US-Armee bezahlen und äusserte sich zunehmend kritisch über Selenskyjs Politik.
Höhnische Botschaft von Trump junior
Andere Rauchzeichen aus dem Trump-Umfeld lassen hingegen nicht die geringste Hoffnung offen für eine Ukraine-freundliche Interpretation. Das gilt namentlich für eine widerliche Video-Botschaft, die der Sohn des neu gewählten Präsidenten, Donald Trump junior, in dieser Woche auf Instagram verbreitete. «Du bist 38 Tage davon entfernt, dein Taschengeld zu verlieren», höhnte der Trump-Sprössling an die Adresse Selenskyjs in Anspielung an die Amtseinführung seines Vaters am 20. Januar. Kann man sich einen niederträchtigeren, respektloseren und primitiveren Ausfall eines verwöhnten Herrensöhnchens gegenüber dem höchsten Repräsentanten eines heroisch gegen einen übermächtigen Angreifer kämpfenden Volkes vorstellen? Ist das der Auftakt und der Stil zur möglichen Kürzung oder Aufkündigung der amerikanischen Hilfsleistungen an Kiew nach Trumps Amtseinsetzung?
Auch die inzwischen bekanntgegebene Entscheidung Trumps, die frühere US-Botschafterin bei der Uno und eine zeitweise Anwärterin auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur, Nikki Haley, nicht in seine Regierungsmannschaft zu berufen, ist wenig geeignet, Zuversicht über die Haltung der neuen Administration zur Ukraine zu verbreiten. Haley hat sich im zurückliegenden US-Wahlkampf als eine der wenigen prominenten republikanischen Figuren unmissverständlich für die ukrainischen Interessen und gegen faule Arrangements mit dem russischen Diktator Putin exponiert.
In der Politik ist nichts unmöglich
Der Eindruck des britischen Historikers und Ukraine-Reisenden Timothy Garton Ash, dass Goliath auf diesem Schlachtfeld zurzeit am Gewinnen ist und dass Trumps Wahlsieg die Aussichten für den ukrainischen David verfinstern, könnte in den nächsten Wochen und Monaten vertieft werden. Oder soll man, wie der von Garton Ash in Kiew zitierte General, «auf ein Wunder warten»? In der Politik bleibt nichts unmöglich, wie man aus historischer Erfahrung weiss.