Die Villa Esche von Henry van de Velde und die Villa Tugendhat von Mies van der Rohe könnten stilistisch nicht unterschiedlicher sein. Dabei liegen ihre Entstehungszeiten nicht weit auseinander. Nach aufwändigen Renovationen sind sie für die Öffentlichkeit zugänglich.
Der belgische Künstler und Architekt Henry van de Velde (1863–1957) gilt als Vorläufer des Bauhausstils. Seine Entwürfe sind nicht ganz einfach einzuordnen, sie pendeln zwischen Art Déco, Jugend- und Heimatstil bis hin zu einem moderat modernen Habitus. Den Schritt zur Sprache der Weissen Moderne vollzog er aber nie. Gleichwohl leitete er auch mit seinen kunsthandwerklichen Arbeiten die Wende zu einer Entwicklung ein, die von Walter Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe geprägt wurde. Und es war van de Velde, der in Weimar eine Kunstgewerbeschule gründete, die mehr oder weniger nahtlos in das Bauhaus unter der Führung von Gropius überging.
Art Déco: Villa Esche
Der Textilunternehmer Herbert Eugen Esche und seine Frau Johanna Louise überliessen bei der Planung ihres neuen Wohnsitzes in Chemnitz Henry van de Velde nicht nur den Entwurf der Architektur, sondern auch die gesamte Inneneinrichtung. Die 1902 vollendete und 1911 erweiterte Villa – dazu gehört im rückwärtigen Bereich ein stattliches und heute als Restaurant genutztes Dienstgebäude – kann somit als Gesamtkunstwerk betrachtet werden.
Inmitten eines Parkes erhebt sich über einem annähernd quadratischen Grundriss ein dreistöckiger, massiver Bau mit einem Mansardflachdach. Die Ost- und die Südseite weisen je einen Risalit auf und dazwischen fügt sich eine in Holz konstruierte Terrasse ein, die sich durch die blaue Bemalung vom gelben Anstrich der Fassaden abhebt.
Alle Räume und Säle sind um die offene, über zwei Stockwerke reichende zentrale Halle gruppiert, die mit ihrem Treppenaufgang eine gewisse Grandezza ausstrahlt. Das Interieur lebt vom Zusammenspiel des vom Architekten sorgfältig ausgesuchten beziehungsweise gestalteten Inventars, das Fussböden, Wandtäfelungen, das gesamte Mobiliar, Bilder, Teppiche, Wandbehänge und vieles mehr umfasst. Der Bau ist ein Manifest für die gute Form und das Handwerk; beides wollte van de Velde mit seiner Schule fördern.
Weisse Moderne: Villa Tugendhat
Erst Mitte der 1920er Jahre vollzog Mies van der Rohe (1886–1969) nach seiner baukünstlerisch eher unergiebigen Frühphase die radikale Wende zu einer puristischen Sprache. «Less is more» lautete seine berühmt gewordene Maxime. Ähnlich wie van de Velde bei der Villa Esche erhielt van der Rohe den Auftrag für ein repräsentatives Wohnhaus in Brünn von einem finanzkräftigen Ehepaar, das wie die Esches in der Textilbranche erfolgreich war: Grete und Fritz Tugendhat – beide aus sehr guten Verhältnissen und mit jüdischem Hintergrund – gaben dem Architekten freie Hand und dieser legte Ende 1928 Pläne für eine Villa vor, die nur bei flüchtigem Blick als verhalten erscheint.
Auf dem höchsten Punkt des riesigen abfallenden Grundstücks thront ein Gebäude, das nicht weniger als 1200 Quadratmeter Nutzfläche aufweist. Prunkstück ist der rund 230 Quadratmeter grosse Wohnraum, in dem van der Rohe das von ihm bevorzugte Konzept des Raumkontinuums umsetzte. Die einzelnen Bereiche werden lediglich durch eine Onyxplatte und durch einen zum Garten offenen Zylinder aus Edelholz ausgeschieden.
Die Fassade zur Stadt ist vollständig verglast; die Statik wird durch ein Metallskelett garantiert, vom dem im Wohnraum die kreuzförmigen Stützen aus verchromten Stahlt sichtbar sind. Zwei der Glaspaneele lassen sich in das Untergeschoss versenken, wofür ein aufwändiges mechanisches System installiert wurde.
Überhaupt investierte van der Rohe in die Technik ebenso viel Planungsenergie wie in die Gestaltung der Auf- und Grundrisse. Heizung und Lüftung lassen sich dank eines ausgeklügelten Schacht- und Rohrnetzes regulieren.
Exklusiv war die Wahl der Werkstoffe, die aus heutiger Warte als ökologisch höchst bedenklich gelten können. Verschiedene Edelhölzer aus Südostasien, Onyxmarmor aus Marokko, Travertin aus Italien. Allein für den Raumteiler aus Onyx – eine Extravaganz, die Mies van der Rohe nur wenige Monate später im deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona wiederholen sollte – wurde ungefähr so viel ausgegeben wie für ein damals übliches Einfamilienhaus.
Wie van de Velde bei der Villa Esche, so bestimmte auch van der Rohe in Brünn sämtliche Möbel. Es waren fast ausschliesslich Modelle aus seinem Atelier, wobei diesbezüglich offenbleibt, wie hoch sein Anteil an den Entwürfen ist. Seine Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Lilly Reich (1885–1947) dürfte hier einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, mehr noch: Es ist nicht auszuschliessen, dass sie das Copyright beanspruchen müsste. Selbst in Bezug auf die Architektur der Villa könnte sie in naher Zukunft gleichberechtigt neben van der Rohe stehen. Im Gegensatz zur Villa Esche fehlten in Brünn Bilder weitgehend. Das Licht im Spiel mit den Maserungen der Holzelemente und des Marmors sollte nach dem Willen van der Rohes genügen, eben: «Less is more».
Gerade im Umfeld des Bauhauses setzte man sich lautstark für erschwinglichen Wohnraum ein, und es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Experimentalhäuser der später gefeierten Protagonisten der frühen Moderne nur dank finanzkräftigen Auftraggebern verwirklicht werden konnten. Selbst in die Weissenhofsiedlung in Stuttgart, die unter der Leitung von Mies van der Rohe das einfache neuzeitliche Wohnen thematisierte, konnten nur Vertreter des oberen Mittelstandes einziehen.
Opfer des NS-Staats und des Kommunismus
Beiden Familien war es nicht gegönnt, lange in ihren Villen zu leben. Die Villa Esche wurde nach 1945 letztlich DDR-Staatsbesitz. Ab 1989 stand das Haus ein Jahrzehnt lang leer, bis es behutsam restauriert und 2001 als Henry-van-de-Velde-Museum und für Tagungen sowie Kulturveranstaltungen zugänglich gemacht wurde. Die Villa Esche dürfte nächstes Jahr, wenn Chemnitz europäische Kulturhauptstadt sein wird, zu einer der Hauptattraktionen werden mit einer Spezialausstellung sowie mit etlichen Vorträgen, Konzerten und Lesungen.
Grete und Fritz Tugendhat waren wegen der nationalsozialistischen Verfolgung schon acht Jahre nach dem Einzug in ihr neues Heim zur Emigration gezwungen. Die Brünner Villa wurde bis in die 1980er Jahre für verschiedene Zwecke ge- und dadurch arg abgenutzt. Die Bemühungen zur Rekonstruktion des Urzustandes begannen schon vor vierzig Jahren. 1992 wurde hier die Teilung der Tschechoslowakei beschlossen und kurz darauf übergab die Stadt Brünn das Denkmal dem Museum, unter dessen Regie 2010 eine aufwändige Instandstellung vorgenommen wurde.
Seither ist die Villa, die 2001 das Label Weltkulturerbe erhielt, öffentlich zugänglich. Allerdings schrankenlos ist nur der Garten, während man sich für eine Führung anmelden muss, und das ist mit Stress verbunden. Freigeschaltet wird der Zugang drei Monate vor dem gewünschten Termin, und nur wem es gelingt, in den ersten Sekunden ein Ticket zu reservieren, bleibt nicht buchstäblich vor der Tür stehen.
Informationen: Villa Esche, Villa Tugendhat
Wer in Brünn übernachten möchte, dem sei das Hotel Avion empfohlen, ein restauriertes Juwel von Bohuslav Fuchs im reinsten Bauhausstil.