Während dreizehn Jahren hat Ruth Erdt den Alltag in Zürichs Kreis 12 fotografisch protokolliert. Ihre Langzeitzeitbeobachtung der sich stark verändernden urbanen Peripherie ist in der Kunsthalle Zürich ausgestellt und in einem gewichtigen Fotobuch gesammelt.
Schwamendingen ist natürlich nicht ganz die Bronx. Aber es hat mit dieser viele Merkmale der Randzonen grosser Städte gemeinsam. Im Norden Zürichs gelegen, geriet das einstige Dorf in den Sog der wachsenden Stadt, wurde im 20. Jahrhundert eingemeindet und zur Wohnstätte der vor allem im nahen Oerlikon beschäftigten Industriearbeiter ausgebaut. Vorbild der Planung war das Modell der englischen Gartenstadt: locker ins Grüne gestellte drei- bis vierstöckige Blöcke.
Im Nachkriegs-Boom wuchs die Bevölkerung bald auf über 30'000 Personen. Die Mieten waren günstig, die Wohnqualität hoch, aber das Image des Viertels bescheiden. Schwamendingen lag ursprünglich abseits der grossen Verkehrswege und war wenig industrialisiert. Es war die sprichwörtliche Rückseite des Zürichbergs und galt als verschlafen. Wer nicht musste, zog nicht dorthin. Der Kreis 12 Zürichs ist noch heute vergleichsweise arm und hat den höchsten Ausländeranteil der Stadt.
Die Fotografin Ruth Erdt sagt von sich, sie sei Anfang der 90er-Jahre eher zufällig dorthin geraten. Nach über dreissig Jahren sei sie zwar keine Schwamendingerin geworden (das können angeblich nur dort Geborene), aber mit dem Stadtteil vertraut gemacht habe sie sich schon. Die fotografische Annäherung an den Kreis 12 und das Wohlwollen der Beobachteten für das Tun der Beobachterin: Beides spiegelt sich in dem Archiv von über 60'000 Bildern, das Ruth Erdt im Laufe von dreizehn Jahren angelegt hat. Das meiste davon liesse sich unter Street Photography oder dokumentarische Fotografie rubrizieren. Daneben gibt es Porträts, zum Teil in improvisierten Ateliersettings, und einzelne geplante Inszenierungen.
Städte verändern sich am heftigsten an ihren Rändern. Schwamendingens mustergültige Wohnsiedlungen sind in die Jahre gekommen. Vieles wird abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die jetzt entstehenden Blöcke sind höher und stehen enger, weil die Siedlungen verdichtet werden müssen. Den einstigen Luxus grosszügiger Grünflächen will man sich nicht mehr leisten. Selbstverständlich werden die Mieten teurer, was die Wohnbevölkerung nach und nach anders selektiert.
Den stärksten Eingriff bringt ein gigantisches Verkehrsprojekt mit sich, das übrigens auf eine Initiative aus der lokalen Bevölkerung zurückgeht. Nachdem der Bau des von Nordosten in die Stadt führenden Autobahnasts A1L das Quartier für Jahrzehnte nicht nur mit einer brutalen Schneise zweigeteilt, sondern mit Lärm und Dreckluft belastet hatte, wird dieses Autobahnstück zurzeit auf einer Länge von fast einem Kilometer mit einer «Einhausung» (dies der Fachausdruck der Ingenieure) versehen: Die sechsspurige Strasse verschwindet in einem Kasten, dessen Oberfläche als Park und Begegnungszone nach Art der New Yorker High Line ausgestaltet wird.
Die Ausstellung in der Kunsthalle und der bei Steidl erschienene über 900 Seiten starke und fast drei Kilogramm schwere Katalog führen vor Augen, was Um- und Neugestaltung eines Stadtviertels bedeuten: Baulärm samt Schutt und Staub hier, ausgehöhlte Häuser und verlassene Wohnräume dort. Gleichzeitig geht das Leben weiter mit allem, was zu einer Stadt in der Stadt gehört. Ruth Erdt fotografiert Wohnblöcke, die abgerissen und solche, die hochgezogen werden. Sie begibt sich in die manchmal gespenstischen Landschaften Schwamendingens: die aus der Sicht von unten zweckfrei erscheinenden Autobahnkonstruktionen über dem in einer Betonrinne gefangenen Flüsschen Glatt, die im Nebel verdämmernden Reste von Natur, die seltsam deplatzierten Rinder und Schafe der wenigen noch nicht verdrängten Landwirtschaftsbetriebe.
Vor allem aber zeigen Ruth Erdts Bilder Menschen. In flüchtigen Strassenszenen arbeitet sie teilweise mit dem Teleobjektiv und bleibt als Fotografin gewissermassen anonym. Meistens aber entstehen die Bilder aus Begegnungen. Dann ist die Urheberin in ihren Fotografien merklich anwesend. Ruth Erdt war vor ihrer künstlerischen Karriere ausgebildete Gemeinwesen- und Jugendarbeiterin. Ihr Schwamendingen-Projekt hat durchaus Aspekte der sozialen Animation; es ist seitens der Kulturabteilung der Stadt Zürich denn auch einbezogen in eine soziokulturelle Initiative, die rund um die im kommenden Jahr fertig werdende Einhausung der A1L eine Vielzahl von Impulsen zur Entwicklung des Stadtkreises 12 auslösen soll.
Trotzdem ist Ruth Erdt nicht eine fotografierende Sozialarbeiterin. Ihre Motivation und ihr Blick auf die Schwamendinger Szenen sind ganz und gar künstlerischer Natur. Sie zeigt die zerstörten Häuser, ohne die (vermutlich unvermeidliche) Gentrifizierung des Viertels zu skandalisieren, sondern mit forschender Neugier auf die Impressionen der Leere und des Wandels. Neben der Beklommenheit kommt mitunter auch eine Leichtigkeit auf, zum Beispiel wenn das Verschwindende sich als spiessig und schäbig erweist. Da ist ein leises Aufatmen in den Bildern: Weg damit! Platz für Neues!
Der künstlerische Blick propagiert nicht, er spürt den Ambivalenzen nach. Ruth Erdt geht in die verlassenen Wohnungen, um dem verschwundenen Leben nachzuspüren. Unter einem noch in der Wand steckenden Nagel erinnert das helle, nach oben ausbleichende Rechteck auf der Tapete an das Bild, das da einst gehangen hat. Dieses Zeichen des Abschieds und der Trauer ist zugleich ein poetisches und hoch ästhetisches Foto, ein Bild voll unerzählter Geschichten, die darauf warten, von der angeregten Phantasie des Betrachters ins Leben gerufen zu werden.
Ein Grossteil des Bilderkonvoluts ist Jugendlichen und jungen Erwachsenen gewidmet. Hier passiert etwas zwischen den Personen vor und der Frau hinter der Kamera. Oft ist der Moment des Fotografiertwerdens ein Augenblick der Selbsterforschung. Damit etwas so Intimes geschieht, braucht es Einverständnis und Vertrauen. Blicke, Mienen, Haltungen, Selbstinszenierungen sind die Angebote der Fotografierten, aus denen berührende, umwerfende, heitere und gelegentlich auch irritierende Fotos entstehen. Die Fotografin ist als Person aktiv dabei, ihre Bilder sind Produkte einer Interaktion. Nun, das gehört zwar zum Elementaren der Fotografie, nur ist es bei Ruth Erdt in besonderer Weise augenscheinlich. Sie ist ein Beziehungsmensch und fotografiert entsprechend.
Die Ausstellung der Kunsthalle Zürich zeigt Fotos aus dem Schwamendingen-Projekt in medial unterschiedlichen Formen: als konventionell gerahmte Prints an der Wand, als bedruckte Vorhänge im Riesenformat, als Slideshows auf Bildschirmen und – eine wunderbare Idee! – als Riesenhaufen von Prints im Ansichtskartenformat auf einem grossen Wühltisch, der zur Hauptattraktion der Ausstellung geworden ist. In diesen unterschiedlichen Präsentationsformen sollen 5'000 Bilder in der Kunsthalle zu sehen sein, was zur Folge hat, dass jede Besucherin eine andere Ausstellung sieht.
Das Buch zur Ausstellung vereinigt rund 600 grossformatige Fotografien und vier Essays zu einer Dokumentation des dreizehn Jahre umfassenden Projekts. Mit der Abfolge der Bilder, an der Ruth Erdt angeblich zwei Jahre gearbeitet hat, ist gewissermassen ein Meta-Kunstwerk geschaffen worden. Allein schon die Wahl des Eröffnungsbilds ist ein künstlerisches Statement, über das man lange nachdenken kann.
Die Folge der 600 Bilder beginnt mit einem jungen Mann mit verschlossener Miene in schwarzer Kleidung. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille, eine goldfarbene Halskette und einen ebensolchen Armreif. Der Hintergrund ist vollständig schwarz. Nur das Gesicht und die kräftigen Schultern und Arme treten aus der Schwärze heraus. – Wir haben ein Porträt im Stil klassischer Malerei vor uns. Als solche Erscheinungen im dunklen Nirgendwo wurden im 18. Jahrhundert Würdenträger und Gelehrte inszeniert. 300 Jahre danach sucht und probiert der Schwamendinger Youngster seine Rolle: ein bisschen Gangsta, ein bisschen Model und viel Coolness, die bei Würdenträgern und Gelehrten einst Sprezzatura hiess.
Kunsthalle Zürich
Ruth Erdt: K12 Schwamendingen
bis 19. Januar 2025
Katalog:
Ruth Erdt: K21 Schwamendingen – ein Randbezirk von Zürich, Urs Stahel (Hg.), Steidl, Göttingen 2024, 900 S.