Leonard Cohen deutete die Gabe seiner Stimme auch als eine religiöse Verpflichtung. Er zitierte in seinen Songs wieder und wieder Aussagen der Bibel. Dabei ist seine Verwurzelung im Judentum noch tiefer, als diese direkten Zitate vermuten lassen. Sein Ringen mit der Religion und seine Suche nach Spiritualität hängen mit seinem Werk untrennbar zusammen.
Caspar Battegay fördert in seinem Buch über «Leonard Cohens Stimme» Bezüge zutage, die Cohen selbst immer nur kurz aufblitzen liess, um sie dann mit seinem Witz und seiner Ironie kunstvoll zu verdecken. Ein schönes Beispiel dafür ist «The Tower of Song». Der ganze Song betrachtet ironisch Cohens Dasein als Sänger, der sich wie in einem Turm gefangen fühlt und immer weiter dichten und singen muss, um die alltäglichen Kosten abzuverdienen. Geradezu versteckt sind darin die berühmten Zeilen: «I was born like this / I had no choice / I was born with the gift of a golden voice.» An dieser Stelle ist bei den Konzerten jeweils der Jubel des Publikums zu hören. – Aber Cohen tut so, als habe er bloss einen selbstironischen Scherz machen wollen.
Der Riss in allem
Nun macht Battegay darauf aufmerksam, dass hinter diesen Zeilen die esoterische Überzeugung steht, dass die Stimme den Sänger wählt und dass das Lied den Dichter schreibt, nicht umgekehrt. In einer Art Gebet, auf das Battegay nicht eingeht, wendet sich Cohen an Gott: «If it be your will / that I sing no more / and my voice is still / like it was before». Er würde gehorsam sein, aber wenn Gott es will, wird er «from this broken hill» für ihn singen und ihn preisen.
Möglicherweise hat Battegay dieses ergreifende Gebet nicht weiter untersucht, weil es keine Deutung benötigt. Anders verhält es sich bei einem anderen Song, «Anthem». Auch dieses Lied gehört zu den bekanntesten Cohens, und es ist nicht nur die Melodie, die eine grosse Fangemeinde gefunden hat. Ganz besonders eingängig sind die Verse «There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in». Man versteht sie durchaus richtig, dass das Licht dort eintritt, wo etwas unvollkommen ist und einen Riss hat. Nun zeigt Battegay, dass der Titel «Anthem» ursprünglich den Wechselgesang von Priester und Gemeinde meint, und dass «crack» auch schöpfungstheologisch verstanden werden kann: Der «crack» ist dabei die Stimme Gottes und die Stimme des Sängers, die damit das ursprüngliche Nichts füllen, damit aber auch das Imperfekte und Fehlerhafte hervorbringen.
Die himmlischen Stimmen
Diese Interpretation ist höchst ungewöhnlich, wie überhaupt Battegays Deutungen der esoterischen und religiösen Quellen, auf die sich Cohen bezieht, eine anspruchsvolle Lektüre bieten. Aber die Mühe lohnt sich. Battegays Erklärungen sind der Schlüssel, den man benötigt, wenn man die Lyrics von Cohen verstehen will. Und nicht nur sie: Es geht auch um die Stimmen der Background-Sängerinnen. Leonhard Cohen hat viel mit den Webb Sisters zusammengearbeitet, deren Stimmen geradezu unnatürlich hoch und harmonisch erscheinen. In manchen Songs stellen sie himmlische Chöre dar. Das ist gut zu wissen, denn dann wird klar, dass es sich nicht nur um einen beliebigen ästhetischen Effekt handelt.
Überhaupt bieten die Verweise Battegays auf die religiösen, esoterischen, aber auch literarischen Bezüge Leonard Cohens eine mögliche Erklärung dafür, dass Cohen an seinen Texten und Kompositionen jeweils Jahre gearbeitet und sie wieder und wieder umgeschrieben hat. An seinem «Hallelujah» soll er zehn Jahre gearbeitet haben, und er berichtet selbst, wie verzweifelt er um den jeweils richtigen Ausdruck gerungen hat. Wenn ein lyrischer Text mit grösster Präzision Motive der Religions- und Literaturgeschichte aufnimmt und verarbeitet, dann steht dahinter harte Arbeit, die den Verfasser wieder und wieder an seine Grenzen führt.
Tod und Abschied
Caspar Battegay beschreibt Leonard Cohens Stimme nicht nur in ihren transzendentalen Bezügen. Er verfolgt sie auch in ihrer jahrzehntelangen Entwicklung, in der sie deutlich tiefer und brüchiger geworden ist. Dabei verzichtet er darauf, Cohens eigene ironische Erklärung, dass er in seinem Leben etwa eine Million Zigaretten geraucht habe, beizuziehen. Aber natürlich spielt das Rauchen eine Rolle, zumal das Cover seines Albums «You want it Darker» Cohen als müden alten Herrn mit einer Zigarette an seiner rechten Hand zeigt. Dagegen beschreibt Battegay, wie Cohens alternde Stimme gerade im Kontrast zu dem betörenden Gesang der Webb Sisters seinen Songs in musikalischer Hinsicht eine unüberbietbare Authentizität verleiht.
Mehr und mehr geht es um den Tod und den Abschied von der Welt. Dabei darf man sagen, dass diese Produktionen Meisterwerke sind, die sich am Gesamtwerk messen lassen können. So kann man bei «You want it Darker» an Cohens Album «The Future» von 1992 denken. Die Vorhersage der bevorstehenden Katastrophe – quer zum damals vorherrschenden Optimismus – schöpft sich nicht nur aus Cohens Intuition, sondern auch aus seiner genauen Kenntnis der Unheilsprophetie. Und so schlüpft er selbst in die Rolle des Propheten, Bezug nehmend auf Jesaja – Battegay analysiert das glänzend.
«You want it Darker» erschien an Cohens 82. Geburtstag, wenige Wochen vor seinem Tod am 7. November 2016. Die religiösen Bezüge sind hier noch stärker ausgeprägt als vorher. Der Titelsong «You want it Darker» enthält den Gesang des Männerchors der Synagoge Shaar Hashomayim in Montreal. Überhaupt erlebte dieses Album eine euphorische Rezeption, die so weit geht, dass Elemente davon in den liturgischen Gebrauch jüdischer Gemeinden eingeflossen sind.
Mit seinem vergleichsweise schmalen Buch liefert Caspar Battegay einen unentbehrlichen Schlüssel zum Verständnis des Werks von Leonard Cohen. Auch Kenner werden darin vieles entdecken, über das sie bislang hinweggehört haben.
Caspar Battegay: Leonard Cohens Stimme. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024, 60 Seiten, 22 Euro