Wir treffen uns im Restaurant „La Méditerranée » an der Pariser Place de l’Odéon. Und bald schon sprudelt es aus ihm heraus. Er erzählt druckreif, klar und deutlich, in einer farbigen Sprache, voller Anekdoten, mit Witz. Man könnte die Augen schliessen und denken: Welch spannende Radiosendung.
Hans Woller lebt, mit einigen Unterbrechungen, seit 36 Jahren in Paris. Er stammt aus Stuttgart, arbeitet für den ORF, das Österreichische Radio und Fernsehen und gelegentlich für den Deutschlandfunk. Früher berichtete er auch für die Tagesschau des Schweizer Fernsehens. Für Journal21 schreibt er wöchentlich eine Kolumne.
Diese setzt er unter den Titel: „Allons enfants, etc.“ – eine Referenz an die von Serge Gainsbourg parodierte, mit Reggae-Musik untermalte Marseillaise, die französische Nationalhymne: „Allons enfants etc. etc.“
Kein "jour de gloire"
Der ursprüngliche Text der Marseillaise heisst: "Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé". Liest man Wollers Texte, so ist der „jour de gloire“ des ursprünglichen Textes der Marseillaise in weiter Ferne. Woller seziert schonungslos, manchmal beissend und immer mit vielen Fakten belegt die französische Politik und Gesellschaft. Die Regierung Sarkozy demaskierte er fast wöchentlich. Von François Hollande hätte er mehr erwartet. Das Fazit: Es wird gelogen und manipuliert, es wird alles versprochen und kaum etwas gehalten. Frankreich geht es schlecht.
Woller, heute 57 Jahre alt, studierte in Tübingen Romanistik, Geschichte und Geografie. Nachdem er den Wehrdienst verweigert hatte, bekam er 1977 die Gelegenheit, dank „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste “ seinen Zivildienst in Paris zu leisten.
Die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste war 1958 von der Evangelischen Kirche Deutschlands ins Leben gerufen worden. Nach dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen will man mit konkreten Aktionen den „Völkern, die von uns Gewalt erlitten haben“ Gutes tun. In Frankreich halfen die ersten Freiwilligen von Sühnezeichen vor über 50 Jahren beim Wiederaufbau der Synagoge von Villeurbanne. Woller arbeitete während seines Zivildienstes in einer Hilfsorganisation für politische Flüchtlinge aus Argentinien, Chile und Guinea-Bissau.
"Hans", ganz einfach: "Hans"
Im gleichen Gebäude in der Pariser Rue de Vaugirard, in der er seinen Zivildienst absolvierte, befand sich die Redaktion der ökologischen Wochenzeitung „Gueule Ouverte“ (Offene Schnauze). Das Magazin war Mitte der 70er-Jahre ein grosser Erfolg und wurde bis zu 50‘000 Mal verkauft. Woller knüpfte Kontakt mit einigen seiner Journalisten.
Nach Beendigung des Zivildienstes kehrte er nach Tübingen zurück, um sein Studium fortzusetzen. Jetzt war er Deutschland-Korrespondent der Gueule Ouverte. 1979 waren die deutschen Grünen gegründet worden; dafür interessierte sich das Pariser Öko-Magazin. Woller unterzeichnete seine Artikel mit „Hans“. Ganz einfach mit „Hans“.
Dann beendete er sein Studium und kehrte als „muttersprachlicher Assistenzlehrer“ nach Frankreich zurück, wo er an Gymnasien unterrichtete und als Übersetzer tätig war. Es folgte ein erster Artikel für die Stuttgarter Zeitung, dann eine Radioreportage für den Hessischen Rundfunk. 1985 und 1986 war er Volontär beim Deutschlandfunk. Es folgten zwei Hospitanzen im ZDF-Studio in Paris.
Das ZDF lockt
Als Produktionsassistent und Rechercheur arbeitete er für das Zweite Deutsche Fernsehen an einer Wirtschaftsdokumentation mit. Sie trug schon damals den Titel „Le déclin de la France“ (Der Niedergang Frankreichs). Bei den französischen Präsidentschaftswahlen 1988 machte er für das ZDF seine ersten Beiträge. Der scheidende ZDF- Korrespondent in Paris und neue Auslandchef wollte ihn anschliessend nach Mainz holen und bot ihm eine Stelle an, doch Woller wollte in Paris bleiben.
Es gibt Zufälle im Leben. Die Cutterin beim ZDF war befreundet mit der Sekretärin des Österreichischen Fernsehens. Die Österreicher hatten damals beschlossen, in die EU einzutreten. Deshalb wollte der ORF seine Präsenz in Paris ausbauen. Seither arbeitet Hans Woller für das österreichische Radio und Fernsehen.
Zwölf Jahre lang pendelte er auch zwischen Paris und Köln, wo er für den Deutschlandfunk arbeitete und Politsendungen moderierte. Bis heute ist er dem Deutschlandfunk treu.
Hans, der Schnauz
In den Neunzigerjahren hatte das Schweizer Fernsehen nicht immer einen festen Korrespondenten in Paris. Damals berichtete Hans Woller auch für die Deutschschweizer „Tagesschau“. Auf der Redaktion hatten wir ihm einen liebevollen Namen gegeben: „Hans, der Schnauz“.
Hans Woller ist seit über 20 Jahren mit einer französischen Juristin verheiratet, die er schon 1977 kennenlernte. Die beiden wohnen im 18. Arrondissement und haben zwei Kinder. „Freizeit habe ich wenig“, sagt er. „Früher fuhr ich Rad, Sonntag Vormittag, ein Mal um ganz Paris herum“. Doch das war einmal. Woller liest viel, geht gern ins Theater, ist ein begeisterter Kulturfan, was sich auch in vielen Reportagen niederschlägt.
Er kennt jede Ecke
Nach dem Essen spazieren wir durch Paris, zunächst dem Jardin du Luxembourg entlang. Hans Woller erzählt und erzählt, er kennt jede Ecke. Er zeigt das Haus, wo die Gueule Ouverte untergebracht war, er zeigt das Restaurant, wo sich der österreichische Schriftsteller Joseph Roth zu Tode getrunken hat.
Woller erzählt von Stéphane Hessel, dem französischen Résistance-Kämpfer, der das Konzentrationslager überlebte und mit dem Buch „Indignez-vous“ (Empört Euch) weite Teile der Gesellschaft aufrüttelte. Drei Mal hat ihn Woller mit der Kamera besucht. „Er war sehr bescheiden, lebte in einer Zweizimmerwohnung im 14. Arrondissement. Wenn das Fernsehen kam, musste seine Frau im Schlafzimmer untertauchen, so wenig Platz war da“.
Woller erzählt von der Präsidentschaftswahl 1988 als Mitterrand wiedergewählt wurde. Auf den Champs-Élysées holte er vor der Kamera erste Reaktionen von Passanten ein. Mit dem Motorrad raste er ins Studio. Das ZDF hatte eine Sondersendung aufgegleist. Als erstes wurde Hans Wollers aktueller Beitrag eingespielt. Dann, als die gescheiten Analysen folgen sollten, brach die Leitung nach Paris zusammen. Wollers Reportage war das Einzige, was die ZDF-Zuschauer zu sehen bekamen.
Für uns rasiert
Journal21 kann in Frankreich aus dem Vollen schöpfen, denn Hans Woller ist nicht unser einziger Frankreich-Korrespondent. Neben ihm schreibt auch Ulrich Meister, der ehemalige NZZ-Korrespondent, regelmässig Kommentare und Berichte (siehe nebenstehenden Kommentar21 "Etwas Ordnung muss sein"). Journal21 gibt es seit dem 10. September 2010. Hans Woller ist seit dem ersten Tag dabei. Seine erste Kolumne trug den Titel: „Hat es Präsident Sarkozy die Sprache verschlagen?“
Inzwischen sind zweidreiviertel Jahre vergangen. In Paris spazieren wir nach Saint- Germain-des-Prés hinunter. Hans Woller mokiert sich über die Ehrenlegion, die Bob Dylan die Mitgliedschaft verweigern will. Er erzählt von Dépardieu und seinem russischen Pass. Die Krankengeschichte von Ex-Präsident Chirac kennt er à fond. Vor dem Restaurant „Les deux magots“, wo einst Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir verkehrten, verabschieden wir uns. Es ist Samstagnachmittag, er muss zur Arbeit.
„Und übrigens“, sagt er noch: „Ich habe mich für dieses Gespräch und diese Fotos extra rasiert.“