Der weihnächtliche Festtagszyklus gibt den Medien manchmal Anlass, sich mit Hintergrundgeschichten über Kirchen zu befassen. Selten geht sowas ab ohne das Stereotyp „die Schäfchen laufen ihren Hirten davon“. Die beliebte Floskel beschreibt nicht nur den Umstand, dass die grossen Kirchen kontinuierlich Mitglieder verlieren; sie ist zusätzlich auch ein Seitenhieb. Was aber trifft er eigentlich? – Hierzu ein kleiner Exkurs.
Die Symbolik des Hirten, der seine Schafe weidet, hatte ihre grosse Zeit im Barock und stand für Geborgenheit und Frieden – das Grauen des Dreissigjährigen Kriegs und der Pest-Epidemien hatte man noch vor Augen. Im Rokoko mit seiner verfeinerten Salonkultur löste sich das Sujet dann aber von jeglichem Erfahrungshintergrund und wurde zum Idyll, zum puren Kitsch, bei dem es nur noch Schäfchen und keine Schafe mehr gab.
Eine ähnliche Degeneration zeigt auch die kirchliche Hirtensymbolik. In der nomadischen Welt der Bibel ist sie noch ein kraftvolles Bild des Vertrauens auf Gott, der wie ein Hirt für seine Menschenherde sorgt. Doch mit der Verschiebung der Hirtenmetapher auf das geistliche Bodenpersonal ist die Symbolik in die Niederungen einer klerikalen Rokoko-Bukolik abgerutscht. Auf sie ist denn auch die erwähnte journalistische Standardfloskel gemünzt. Dabei trifft der Seitenhieb nicht bloss das Kitschige des Motivs, sondern mehr noch die pastorale Anmassung: Die nämlich macht aus Kirchenmitgliedern Herdentiere, die gehütet werden müssen.
Mit der Amtsbezeichnung „Pastor“ (lateinisch für Hirt) haben die Kirchen tatsächlich ein Eigentor geschossen. Religionsgeschichtlich ist „Hirte“ eine Herrschaftsbezeichnung, mit der in der Antike im Vorderen Orient primär weltliche (aber auch religiöse) Machthaber geschmückt wurden, die für sich in Anspruch nahmen, ein für die Untergebenen förderliches Regiment auszuüben. Diese Metaphorik hat auch auf den kirchlichen Pastor abgefärbt. Er ist Hirte im Sinn einer unzweifelhaften Autorität, die ihre „Herde“ führt und beaufsichtigt. – Eine durchaus problematische Auffassung von der Aufgabe geistlichen Anleitens, Förderns und Lehrens.
Es mag interessieren, dass Luther die vorgegebene Bezeichnung „Pastor“ zuerst nicht übernehmen wollte. Sie setzte sich jedoch in den Reformationskirchen international weitgehend durch; Süddeutschland und die Schweiz jedoch gingen eigene Wege. Hier hat sich interkonfessionell das Wort „Pfarrer“ durchgesetzt. Dessen Herkunft ist nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich steckt dahinter das griechische „Paroikia“, die Dorfgemeinschaft (Parochie). Der Pfarrer ist so gesehen der geistliche Leiter im Dienst einer Kommune – eine Vorstellung, die darauf beruht, dass Letztere aus erwachsenen mündigen Menschen besteht.
Pfarrer mit Hirten zu vergleichen, ist für Kirchen, die in der Moderne angekommen sind, ein alter Hut – nur ist dieser leider nie entsorgt worden. Die toxisch gewordene Hirtensymbolik ist ein Überrest, dessen Vorhandensein Aussenstehenden eher auffällt als Insidern. So lange diese Altlast nicht beseitigt ist, können hämische Journalisten nicht ganz ohne Berechtigung auf ihrem Lieblings-Stereotyp herumreiten, den Kirchen würden die Schäfchen weglaufen.