Gila Lustiger stellt eine Frage, die im ersten Moment befremdet: Verstehen wir den Terror? Jeder meint zu wissen, was es mit dem Terror und den Terroristen auf sich hat. Gila Lustiger gibt sich damit aber nicht zufrieden. Sie spürt, dass es unbeantwortete Fragen gibt, Fragen, die vielleicht noch gar nicht gestellt oder die schlicht und einfach untergegangen sind.
Die Sucht nach Informationen
Um sich diesen zunächst schwer greifbaren Fragen zu nähern, beschreibt sie ihre eigene Erschütterung. Nach den Terrorakten und Morden vom 13. November 2015 in Paris ist sie wie gelähmt. Tagelang lässt sie die neuesten Meldungen aus allen Medien auf sich einströmen und weiss doch nur zu genau, wie falsch und sinnlos das ist: „Ich war informationssüchtig geworden, und mein Suchtmittel war im digitalen Zeitalter sofort verfügbar.“
Selbstauskünfte können banal sein. Gila Lustiger gelingt aber das Kunststück, ihre Suche ohne Selbstbespiegelung zu beschreiben. Sie erzählt von ihren Gesprächen mit Freunden, sie erzählt, wie sie auf Ungereimtheiten stösst und diese aufzulösen versucht. Sie lässt die Leser an ihren Recherchen teilnehmen und erst dadurch wird deutlich, wie die Antworten zu verstehen sind, die sie nach und nach gibt.
Die „Sprachlosigkeit des Mobs“
Der gemeinsame Nenner aller Antworten liegt in dem Wort „Erschütterung“. Denn es bezeichnet nicht nur die Tatsache, dass Gila Lustiger in ihrem Innersten getroffen ist und mühsam versuchen muss, neuen Halt zu finden. Die Erschütterung geht viel weiter. So fällt ihr auf, dass die Jugendlichen in den Banlieues bei ihren regelmässig wiederkehrenden Krawallen mit den zahllosen Zerstörungen, Brandanschlägen und gewaltsamen Konfrontationen mit der Polizei nie inhaltliche Forderungen stellen. Sie nennt das die „Sprachlosigkeit des Mobs“. Erschütternd daran ist die Tatsache, dass damit jede Möglichkeit einer rationalen Auseinandersetzung und einer Annäherung der Politik und Administration an die jungen Bewohner der Banlieues von vornherein ausgeschlossen ist.
Dabei hat es zahllose Versuche gegeben, durch Schulreformen, Sozialarbeit und zusätzliche öffentliche Einrichtungen wie Jugendzentren und Büchereien die Jugend für die französische Kultur und Gesellschaft zu gewinnen. Seitenlang beschreibt Gila Lustiger die Bemühungen, durch immer neue pädagogische Methoden und Neuformierungen der Schulen an die jungen Bewohner der Banlieues heranzukommen. Das ist alles so vergeblich geblieben wie die auffällige Häufung der Besuche von Politikern. Der Gesellschaft will es einfach nicht gelingen, diesen Teil der Jugend, deren Wurzeln zumeist in den ehemaligen französischen Kolonien liegen, zu erreichen.
Realitätsverlust der Linken
Politiker, Sozialarbeiter und Pädagogen beissen sich an ihnen die Zähne aus, aber so lange die gewaltsamen Ausschreitungen auf die Banlieues beschränkt blieben, hat das die bürgerlichen Kreise, zu denen Gila Lustiger sich zählt, nicht ernsthaft interessiert. Erst als aus Teilen der randalierenden Jugend Attentäter wurden, die am 13. November 2015 kaltblütig auf Menschen schossen, die Cafés und ein Konzert besuchten, änderte sich diese kühle Distanz.
Bei ihren Betrachtungen wird Gila Lustiger nach und nach klar, dass es den linken Parteien und Gewerkschaften nie darum gegangen ist, die jungen Bewohner der Banlieues für sich zu gewinnen und für sie einzutreten. Sie passten und passen schlicht und einfach nicht in ihr politisches Weltbild. Sie seien, wie der Soziologe Zygmunt Baumann sie einmal „mit dem Zynismus des Verzweifelten“ genannt habe, „der Abfall der Globalisierung“. Das einzige, was den Parteien und Verbänden eingefallen ist, besteht in der öffentlichen Fürsorge. Die aber schürt in den Augen Lustigers noch mehr die Wut.
Respekt
Denn Fürsorge oder Sozialhilfe beruhen nicht auf Gegenseitigkeit. Die Empfänger werden zu nichts verpflichtet. In diesem Zusammenhang bezieht sich Gila Lustiger auf einen Text von Marcel Mauss, „Die Gabe“. Darin beschreibt der Soziologe und Ethnologe Mauss, dass schon in frühen Kulturen Geben und Nehmen in einem Wechselverhältnis stehen. Erst in diesem Wechselverhältnis entsteht „Respekt“, wie auch der von Lustiger zitierte Richard Sennett ausgeführt hat. Bezeichnenderweise ist es der Mangel an Respekt, den gerade die gewalttätigen Jugendlichen als Quelle ihrer Wut benennen.
Die Kritik an der Linken mit ihrem „Realitätsverlust“, der Abgehobenheit der schmalen Elite aus der ENA und der Tatsache, dass alle Bemühungen um Schulreformen ins Leere liefen, führt Gila Lustiger aber nicht auf die Seite der abgehängten Jugendlichen aus den Banlieues oder der Gewalttäter in der Silvesternacht von Köln. Sie macht ganz klar, wie schockiert sie durch die „sprachlose“ Gewalt ist, wie sehr sie es abstösst, dass diese Menschen nichts verändern, sondern nur den besonderen Kick der Gewalttat und das Entsetzen der Opfer spüren wollen. „Es gibt keinen Knigge für Opfer. Auch nicht für Täter. Aber es gibt zum Glück das Gesetz.“
Die Arbeitslosigkeit
Gila Lustiger ist eine deutsche Jüdin, die in einem Kibbuz aufwuchs. Sie ist mit einem Franzosen verheiratet und hat zwei Kinder. Was sie zusätzlich zu den Mordtaten der Terroristen aus den Banlieues erschüttert, ist der von dort ausgehende Antisemitismus. Auch das ist für sie ein Zeichen des „neuen Faschismus“, und sie formuliert in Anlehnung an die Schrift „Über die Toleranz“ von Voltaire lakonisch: „Nicht jede Epoche bringt Dschihadisten hervor. Unsere schon.“
Das brutale Faktum, an dem alle Bemühungen um Förderung, Integration und Chancengleichheit scheitern, ist die Arbeitslosigkeit. Bei den Bewohnern der Banlieues handelt es sich um Menschen, „die aus ökonomischer Sicht wertlos geworden sind“. Sie haben es aber satt, „in Plattenbauten leben zu müssen und auf die Gaben des Wohlfahrtsstaates angewiesen zu sein“. Gila Lustiger vermutet, dass die ersten Bewohner dieser Siedlungen, die noch Arbeit hatten, ihre Wohnsituation ganz anders erlebt haben. „Plattenbauten wurden für Arbeiter geschaffen, nicht für Arbeitslose.“
Ohne Adressaten
Durch die Arbeitslosigkeit hat sich die Mentalität der Jugendlichen völlig anders entwickelt als im übrigen Frankreich. Stolz auf die Revolution mit ihrem „Sturm auf die Bastille“ geht jede Protestbewegung, seien es nun Bauern, Lehrer, Lastwagenfahrer oder Bedienstete des Gesundheitswesens, auf die repräsentativen Plätze in Paris und sucht ein Maximum an öffentlicher Aufmerksamkeit. Nicht so die Jungen in den Banlieues. Sie sind nicht nur sprachlos, sondern sie bleiben auch in ihrem Umfeld. Sie zerstören die öffentlichen Einrichtungen in ihren Vierteln, nicht woanders. Sie haben keine Adressaten.
Gila Lustiger hat ein sehr persönliches, gedankenreiches und scharfsinniges Buch geschrieben. Sie ist eine glänzende Schriftstellerin und hervorragende Beobachterin. Man wünschte sich mehr Bücher von dieser Qualität.
Gila Lustiger, Erschütterung. Über den Terror, Berlin Verlag, Berlin 2016, 159 Seiten