Ein jüngeres Ehepaar sitzt mit einem etwa zweijährigen Kind im Restaurant am Nebentisch. Die Mutter zeigt dem Kind Kinderbücher – wenigstens nicht den üblichen digitalen Schrott, denken meine Frau und ich. Dann aber kommt die grosse Ernüchterung.
Warten, nicht essen
Denn das Kind macht sich einen Spass daraus, drei dieser dickseitigen Kinderbücher wieder und wieder auf den Boden zu schmeissen. Vater und Mutter bücken sich, das Kind freut sich und wirft die Bücher gleich wieder auf den Boden.
Nun verschwindet die Mutter mit dem Kind. Es dauert und dauert. Das Essen wird serviert – heiss dampfend und von bester Qualität wie immer in diesem kleinen Restaurant, das etwas Besonderes ist. Der Teller vor der abwesenden Mutter kühlt aus, ebenso der Teller vor dem Vater. Der wartet und isst keinen Bissen; lenkt sich mit dem Mobiltelefon ab.
Eltern im Griff
Die Mutter kommt nach langer Zeit mit ihrem Kind zurück. Die Eltern reden kein Wort miteinander und versuchen zu essen, aber das Essen ist inzwischen kalt, und das Kind gibt nur kurze Zeit Ruhe. Dann geht der Zirkus von vorne los. Aus irgendeinem Grund muss nun der Vater mit dem Kind verschwinden und kommt und kommt nicht zurück. Als er endlich wieder erscheint, ist der gemeinsame Restaurantbesuch für dieses Ehepaar offensichtlich gelaufen.
Sie reden kein Wort miteinander. Das Kind schaut zwar blicklos, aber irgendwie zufrieden in die Gegend. Jetzt muss es keine Heftchen mehr auf den Boden schmeissen. Es hat seine Eltern gut im Griff.
Würde und Zorn
Wir sitzen da, und es läuft uns kalt den Rücken hinunter. Der Mann wagt nicht, väterlichen Zorn zu empfinden. Schon gar nicht wagt er es, diesen Zorn sein Kind spüren zu lassen. Und erst recht wagt er es nicht, mit seinem Zorn dem grenzenlosen Verständnis seiner Frau Grenzen zu ziehen.
Was würde geschehen, wenn er es wagte? Wenn er das Kind seinen Zorn spüren liesse und damit auch seiner Frau zeigte, dass er ein Mensch mit eigener Würde ist? Aber dazu hätte er irgendwann das Nein-Sagen lernen müssen.
Amorphe Familie
Oder sie hätte das Nein-Sagen lernen müssen. Aber hätte sie dann diesen Softie geheiratet?
Und so sehen wir eine amorphe Familie. Alle hocken am Tisch, das Kind schmeisst seine Sachen auf den Boden, entführt von Zeit zu Zeit den einen oder anderen Elternteil; die Eltern kommen nicht zum Essen, und alles ist eine unendliche Misere.
Zorn empfinden, Grenzen ziehen, dazu stehen: Billiger lässt sich eine solche Misere nicht überwinden. Aber dazu müsste dieser Mann ein Mann sein. Oder seine Frau müsste eine Frau sein, die zu sich steht. Aber wenn beide das nicht können, landen beide irgendwann vor dem Scheidungsrichter und das Kind im Nirgendwo.