Neben dem Telefon hängt ein Zettel. Darauf steht: Hörer abnehmen und warten. Es passiert nicht viel in dem Film. Über weite Strecken könnte man fast denken, die Sesselbahn sei der Hauptdarsteller: die vereisten Rollen, die Masten im Nebel, die verschneiten leeren Sitze, die langsam näher fahren.
„Kurt und der Sessellift“ ist ein Movie ohne Movement, ein Film ohne Action. Erzählt in einer Filmsprache, die keine Angst hat vor langen Einstellungen: die Totale einer kleinen Bergstation im Kanton Nidwalden. Es gibt nur den Lift und die winzige Schutzkabine, unbeweglich im Schneetreiben. Und der einzige Ton ist der Wind oder das Surren der Rollen auf dem Drahtseil. Dann mal ein Schnitt und Close up auf Kässeli, Münz und Zwanziger-Noten, bedeckt von Schneeflocken und Raureif. Und dann eine Stimme, die Stimme von Kurt:
„Am Afang het mer gseit es isch e sinnvolli Freyzeytbeschäftigung. De macht mer neyd Dimmers… Wenn ich das wägm Gäud miäst mache, das gat gar nid.“
Etwas über zehn Jahre ist es her. Da sollte der Sessellift vom Alpboden auf den Haldigrat an der Westschulter des Brisen abgerissen werden. Er rentierte nicht mehr. Da übernahm Kurth Mathis, der in Wolfenschiessen ein Gipsergeschäft hat, zusammen mit seiner Frau Antoinette den Lift und das Panorama-Restaurant.
Diese Bahn wirft wohl kaum Profit ab. Alle sechs Minunten können im Tal und auf dem Berg vier Personen zusteigen. Der Sessellift steht da wie ein Mahnmal einer längst vergangenen Epoche. Einer Epoche der Langsamkeit. Oft schneit es. Wenn einmal die Sonne scheint, kommen junge Snowboarder herauf. Der eine sagt, das Faszinierende am Haldigrat-Lift sei der Kurt. Der sei noch „en eigete“. Man habe den Eindruck, der Mann sei gar nicht so froh, wenn jemand kommt. Am liebsten sei der Kurt wohl allein da oben bei seinem Lift.
Das Bergfilmfestival Tegernsee
Das Internationale Bergfilmfestival in Tegernsee ist eine kleine, aber feine Veranstaltung, die dieses Jahr zum elften Mal stattfand. Spiritus Rector ist Bürgermeister Peter Jansen. Motor und Manager ist Michael Pause, Leiter des Fernseh-Magazins „Bergauf-bergab“ im Bayrischen Rundfunk. Beide werden unterstützt von vielen engagierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Der Deutsche Alpenverein trägt die Sache mit. Und Schirmherr – wie sollte es anders sein – ist der 83jährige Heiner Geissler, leidenschaftlicher Bergsteiger und legendärer CDU-Politiker , der in hohem Alter noch zum Globalisierungskritiker und Umweltschützer mutierte.
Mehr als 160 Filme waren eingereicht worden für den Wettbewerb. Rund 40 kamen in die engere Auswahl. Ende letzter Woche hatten wir fünf Jury-Mitglieder viereckige Augen vom Film-Glotzen und waren uns einig: „Kurt und der Sessellift“ soll zu den sechs Filmen gehören, die einen Preis bekommen. Der zwanzigminütige Dokumentarfilm wurde ausgezeichnet als bester Film in der Kategorie Lebensraum Berg. Und das ist keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass in dieser Kategorie elf Filme in die engere Auswahl gekommen waren, darunter ein Werk der berühmten französischen Bergfilm-Regisseure Lapied.
Wie kommt eine junge Regisseurin in der Schweiz auf die Idee, einen solchen Film zu machen? Sie sei in Nidwalden aufgewachsen, sagt Thaïs Odermatt, und schon als Kind sei sie am Haldigrat Sessellift gefahren. Sie kenne die grossen Ski-Resorts und wisse, dass Bergbahnen und Skilifte ein knallhartes Business seien:
„Aber da kommt dann plötzlich so einer, dem es nicht ums grosse Geld geht. Und er versucht einen kleinen Lift durchzubringen, der so wenig Sesseli hat. Und er hat überhaupt keinen finanziellen Anreiz. Ich finde solche Leute faszinierend, die einfach so etwas machen und für ihre Leidenschaft einstehen.“
Thaïs Odermatt interessiert sich für Menschen, die in den Bergen leben, und für ihre Probleme. Sie porträtiert lieber einen schrägen Typen wie Kurt als einen Extembergsteiger.
Nicht nur Heldentum am Berg
Der traditionelle Bergfilm war lange Zeit ästhetisch festgelegt. Da sind die Nordwände, die eisigen Abgründe, der Kampf gegen grausame Naturgewalten, der Gipfel-Sieg oder der tödliche Sturz. Alles in allem eine gehörige Portion Heldentum und eine gehörige Portion Pathos, auch wenn es sich nicht um Spielfilm, sondern um Dokumentarfilm handelte.
Das hat sich in den letzten Jahren geändert. In allen Alpenländern wurde das Spektrum der Festivals erweitert. Es umfasst heute neben dem eigentlichen Bergsteigen auch Themen wie Tierwelt und Pflanzenwelt, Alpenschutz und Probleme des Massentourismus oder einfach Porträts von Menschen, deren Leben vom Gebirge bestimmt wird, sei es in Italien, in Nepal oder in Marokko.
Den Hautpreis erhielt in Tegernsee der Film „Le thé ou l’électricité“ des belgischen Filmers Jérôme le Maire. Er zeigt, wie ein abgelegenes Dorf im Hohen Atlas ans Stromnetz angeschlossen wird. Ein Film, der nicht nur durch eine sensible Kamera und einen wehmütigen Humor beeindruckt, sondern auch einen politischen Brennpunkt fokussiert, wie er aktueller nicht sein könnte: den schmerzhaften Zusammenprall einer ausgegrenzten Dorfgemeinschaft mit der modernen Mediengesellschaft und der Globalisierung.
Free solo und das Spiel mit der Angst
Selbverständlich waren in Tegernsee auch Filme über Extrembergsteiger und Extrembergsteigerinnen zu sehen. Diese Berg-Thriller, bei denen der Zuschauer – nah am Herzsstillstand – nach einem Sitzgurt sucht, um sich am Kinostuhl anzuschnallen. Dank ausgefeilter Aufnahmetechniken und einer gigantischen Logistik, die keine Kosten scheut, entstehen Filme wie „Grenzen der Felskletterei“, einer Geschichte des Alpinismus am Beispiel der Nordwand der Grossen Zinne in den Dolomiten. Da ist zu sehen, wie der Spitzenkletterer Alexander Huber die Direttissima free solo durchsteigt – also allein und ohne Seilsicherung oder technische Hilfsmittel. Bilder, die im wahren und physischen Sinne des Wortes atemberaubend sind. Die Leistungen der Top-Kletterer haben in den letzten Jahren ein Niveau erreicht, das einem durchschnittlichen Alpinisten vorkommt wie Magie, wie schwarze Kunst.
Reduktion der filmischen Mittel
Kurt befindet sich mit seinem Sessellift weit ausserhalb von all dem. Der Film erzählt weder eine urchige Heimatballade noch ein dramatisches Abenteuer. Der einzige Schauplatz ist die Bergstation des Skiliftes, welche wohl gleichzeitig der wichtigste Schauplatz im Leben von Kurt Mathis geworden ist. Und dieser bringt es fertig, in wenigen spröden Worten ein ganzes Leben zu erzählen. Dass dieses Leben nicht immer lustig war, das verbirgt er hinter einem trockenen Humor.
Dieses Understatement charakterisiert nicht nur den Protagonisten, sondern auch die filmischen Mittel. Und wahrscheinlich ist das genau der Grund, warum diese No-Action-Story auf den überraschten Zuschauer so erfrischend wirkt. Die feinfühlig eingesetzte Musik stammt von der Band Quantensprung und vom Jazz-Musiker Lenz Huber.
Die Story hat in all ihrer Einfachheit und Bescheidenheit eine zweite Ebene. Eine symbolische. Die Masten und das Drahtseil im Schneetreiben bieten gleichsam einen materiellen Widerstand der Geschichte gegen das schnelle Leben unserer Zeit.