Frankreich im Krieg: Das Vichy-Regime und die Deutschen gingen hart gegen Juden, Intellektuelle und andere Verfolgte vor. In einer vierteiligen Serie, die Journal21 im August veröffentlichte, beschreibt Hans Woller, wie ein kleiner Ort im Südosten Frankreichs mutigen - und erfolgreichen - Widerstand leistete. Wir piublizieren hier alle vier Teile integral.
HUNDERTE STILLE HELDEN
„Eine Kleinstadt, in der die Leute alle stillschweigend Widerstandskämpfer waren, passiv zwar, aber trotzdem. Und alle wussten Bescheid, aber keiner hat je etwas gesagt.“
Mit diesen Worten umreisst der Filmhistoriker und Übersetzer Bernard Eisenschitz vor einer seiner Bücherwände in der Pariser Rue de Rivoli die Besonderheit der Geschichte der 3‘000-Seelengemeinde Dieulefit während der Zeit des Vichy-Regimes und der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs. Bernard Eisenschitz ist der Enkel des in Wien geborenen Malers jüdischer Abstammung, Willy Eisenschitz, der 1937 die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und einer unter den rund 1‘500 Schutzsuchenden war, der in Dieulefit Aufnahme fand, in seinem Fall ab Ende 1942.
Die Gemeinde liegt 30 Kilometer östlich der Rhône und der Nougatstadt Montélimar, in einer ausgedehnten Mulde am Ende eines Tals, umgeben von knapp 1‘000 Meter hohen Bergen. Der Einfluss des Voralpengebiets, des Dauphiné und sein eher raues Klimas sind hier, besonders im Winter, noch zu spüren, gleichzeitig überwiegen aber schon die Farben der Provence, das Licht des Südens und der vom Mistral gereinigte Himmel.
“Die Zeit vergeht, verbring sie gut“
Die Bergkuppen sind zumeist von Krüppeleichen bedeckt, weiter unten, an den verstreut besiedelten Hängen und im Tal setzen Pappeln und Zypressen ihre Akzente. Der alte Ortskern von Dieulefit, den sie hier „Viale“ nennen, geht auf das 13. Jahrhundert zurück, im neueren Teil, aus dem 18. Jahrhundert, führt die hell gepflasterte, enge Hauptstrasse von der katholischen Kirche auf der einen Seite zur evangelischen Kirche am Hauptplatz auf der anderen Seite des Zentrums. Neben dem stolzen Rathaus steht ein mächtiger Glockenturm aus dem 16. Jahrhundert mit einer Sonnenuhr, unter der der provenzalische Satz zu lesen ist: „Lou tems passo, passo lou ben“. Die Zeit vergeht, verbring sie gut - ein einladendes Motto.
Dieu – le – fit - wörtlich: Gott hat's gemacht, ist seit den Religionskriegen eine Hochburg der protestantischen Minderheit Frankreichs und war ab dem 19. Jahrhundert berühmt für sein blühendes Töpferhandwerk und seine Textilindustrie, die einst der wichtigste Arbeitgeber am Ort war.
Niemand wurde denunziert
Nach dem ersten Weltkrieg hatte hier ganz langsam auch der Tourismus eingesetzt und gleichzeitig wurde Dieulefit bekannt als Luftkurort für Lungenkranke. Zeitweise gab es hier ein halbes Dutzend Heime und Sanatorien, sowie ein Krankenhaus - Einrichtungen, die in den dunklen Zeiten der 40er Jahre durchaus ihre Bedeutung bekommen sollten. Wenn einer erst mal als schwindsüchtig erklärt war, schauten auch die Miliz des Vichy-Regimes oder die deutschen Besatzer nicht mehr so genau, ob er nicht vielleicht einen falschen Namen trug.
Zwischen 1940 und 1945 war ein Drittel der Bevölkerung von Dieulefit Menschen, die von auswärts gekommen, hierher geflüchtet waren. Die Gemeinde hat dieses Drittel all die Jahre ernährt, beschützt und letztlich gerettet. Kein einziger der Schutzsuchenden und Gefährdeten ist in dieser Zeit bei den Behörden des Vichy-Regimes oder bei der Gestapo denunziert worden. Hunderte stille Helden haben in diesem rüden und zugleich malerischen Landstrich auf ihre Art den kriminellen Plänen des Vichy-Regimes und der nationalsozialistischen Besatzer getrotzt.
“Wir haben getan, was zu tun war“
Françoise Meyer, bis zu ihrer Pensionierung vor einigen Jahren eine renommierte Psychoanalytikerin in Paris und Mutter des Filmregisseurs Cédric Klapisch, war zehn Jahre alt, als sie 1942 an einem Sonntag unbedingt bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Dieulefit bleiben wollte, während ihre Eltern mit dem Bus nach Montélimar ins Rhônetal zurückfuhren. Ihr kindlicher Eigensinn hat ihr das Leben gerettet, ihre Eltern, Juden und im Widerstand engagiert, hat sie nie mehr wieder gesehen. „Mein Onkel“, erinnert sie sich heute in ihrem Pariser Salon unweit des Pantheon,“Simon Abramovic, der sich damals als Lehrer über Wasser hielt, erzählte eines Abends, dass Pol Arcens, der Schulleiter des Gymnasiums 'La Roseraie' in Dieulefit, von den Behörden den schriftlichen Befehl bekommen hatte, keine jüdischen Lehrer mehr zu beschäftigen und dass er diesen Befehl vor den Augen meines Onkels einfach zerrissen hat. Wir haben uns damals viele Dinge gar nicht richtig klar gemacht. Die Menschen in Dieulefit haben ja auch Wohnungen und Häuser an uns Juden vermietet. Das schien uns damals ganz selbstverständlich, dabei war das für sie doch ziemlich gefährlich.“
Doch darum haben die Menschen in Dieulefit in den Jahrzehnten nach dem Krieg nie viel Aufhebens gemacht. „Für sie war das ganz normal. Wen sie hier auch fragen“, sagt Anne Lachens, die Enkeltochter einer der zentralen Persönlichkeiten Dieulefits in jener Zeit. „Die Antwort lautet stets: wir haben getan, was zu tun war. Auch meine Großmütter sagten immer: wir haben nichts Besonderes, nichts Aussergewöhnliches gemacht."
“Das Wunder des Schweigens“
Entsprechend war über 60 Jahre lang die ungewöhnliche Geschichte von Dieulefit während der deutschen Besatzung auch der französischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen geblieben, bis die Autorin Anne Vallaeys 2008 ein Buch herausbrachte unter dem Titel : „Dieulefit oder das Wunder des Schweigens“.
Insgesamt neun Bürger aus der Stadt sind für ihren zivilen Widerstand und für die Rettung von Juden unter dem Einsatz ihres Lebens von der Gedenkstätte Yad Vashem und dem Staat Israel zu Gerechten unter den Nationen ernannt worden. Erst seit fünf Jahren erinnert eine diskrete Tafel mit den Namen der Retter in der Eingangshalle des Rathauses daran: Emmeline Abel, Elie Abel, Pol Arcens, Madeleine Arcens, Catherine Krafft, Jeanne Barnier, Simone Monnier, Marguerite Soubeyran und Henri Morin.
Henri Morins Sohn, Jean, ist heute einer der Honoratioren von Dieulefit, Spross einer der grossen protestantischen Familien der Stadt, die damals den Flüchtlingen ihre Häuser geöffnet haben. Eine Familie, die, wie es für viele Protestanten in dieser Region in den vergangenen Jahrhunderten üblich war, heute sogar noch über ihren privaten Friedhof verfügt. Der 86-Jährige, gross gewachsene, elegante alte Herr, der eine gewisse Güte ausstrahlt, hat in den 60er Jahren die Tuchmacherfabrik seiner Familie schliessen müssen, die seit mehr als 200 Jahren bestanden hatte. Geblieben ist das herrschaftliche Haus in einem Park ähnlichen Anwesen entlang der stolzen Platanenallee am Eingang des Ortes.
Berufsverbot für Juden
Jean Morin war während des Kriegs Schüler im Gymnasium „La Roseraie“ und Françoise Meyers Onkel, Simon Abramovic, sein Französischlehrer. Auch „La Roseraie“ wurde ab Frühjahr 1940, nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich und dem Exodus von Millionen Franzosen in die Südhälfte des Landes, zur Anlaufstelle für Dutzende Verfolgte - Jugendliche wie Erwachsene. Ein erheblicher Teil des Lehrkörpers bestand schon bald aus Juden, die vom Vichy-Regime Berufsverbot erhalten hatten.
„Normalerweise“, sagt Jean Morin, „hätten alle diese Leute vom Bürgermeister denunziert werden müssen. Er hätte sie bei der Präfektur in Valence anzeigen müssen, gemäß der Bestimmungen der Vichy-Regierung. Er hat das aber nie getan. Auf meinen alten Schulzeugnissen fand ich die Unterschrift von Monsieur Abramovic, unserem Französischlehrer. Dieses Zeugnis ist vom Bürgermeister gegengezeichnet, neben der Unterschrift eines jüdischen Lehrers. Das hätte er im Grunde nie tun dürfen.“
Jean Morin war in seinem behüteten, grossbürgerlichen Zuhause sehr früh mit den konkreten Folgen der politischen Ereignisse im Europa der 30er Jahre konfrontiert worden. 1938 schon, als er elf war, erlebte er mit, wie sich seine Mutter, die Vorsitzende des örtlichen Roten Kreuzes, Wochen lang darum kümmerte, einige Dutzend spanische Frauen und Kinder, die vor Franco geflüchtet waren, unterzubringen und zu versorgen. Im Herbst 1939 nach Hitlers Überfall auf Polen und der Kriegserklärung kamen dann zahlreiche Lothringer und Elsässer nach Dieulefit - das Netzwerk der protestantischen Familien, von denen es gerade im Elsass sehr viele gab, hat dabei seine Rolle gespielt. In Jean Morins grosszügigen Wohnzimmer sind in einem Regal noch Spuren davon zu sehen: Einer, der hier aufgenommen wurde, hat sich damals die Zeit damit vertrieben, elsässische Interieurs und Personen in Miniaturformat zu basteln. Eines Tages, im Oktober 1942, kam dann noch ein weiterer Mitbewohner ins Elternhaus von Jean Morin.
Seine Eltern sah er nie wieder
„Durch die Vermittlung der protestantischen Gemeinde hier ist ein Junge zu uns gekommen, der war 10 ½ und hieß Isaac Fabrykant. Unsere Eltern haben ihn uns als einen jungen Juden vorgestellt, der aus Belgien kam und gesagt, seine Eltern seien die Hausmeister der Synagoge in Antwerpen. Meine Eltern haben sich dann darum gekümmert, dass er Ausweispapiere bekam. Wir haben ihn François Fabricant genannt – mit der französischen Schreibweise. Er ging dann ganz normal hier in die öffentliche Schule und ganz natürlich mit uns auch in die so genannte Sonntagsschule, in die Bibelstunde der protestantischen Gemeinde“.
Isaac Fabrykant lebt heute in Israel. Vor zwei Jahren hat er alles daran gesetzt, seinen Kindern und Enkeln den Ort zu zeigen, wo er als Kind überlebt hatte. Für drei Tage ist er nach Dieulefit zurückgekommen und hat noch einmal im Haus der Morins geschlafen. Er war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass Jean Morins Vater, Henri, nach dem Krieg als erster Bürger von Dieulefit zum Gerechten unter den Nationen erklärt wurde.
Ein anderer mit einem ähnlichen Schicksal wie Isaac Fabrykant lebt heute noch in Dieulefit. Max Tutreltaub ist ein rüstiger 83-Jähriger, den sie hier alle nur Marcel nennen. Sein Haus aus den 70er Jahren, in dem er alleine mit seinem Hund lebt, steht am Südhang oberhalb des Städtchens lichtgeschützt in den Eichenwäldern. Das videoüberwachte Gartentor öffnet sich automatisch, der Hausherr mit noch dunklen Haaren bittet in die grosse aufgeräumte Küche an den Resopaltisch. Dort liegt ein altes Foto, das er herausgekramt hat und das den kleinen Max Turteltaub mit der Schultüte vor dem Kölner Dom zeigt. Unmittelbar nach der Pogromnacht waren die Turteltaubs damals aus Deutschland geflüchtet, zunächst nach Belgien, wo sie später erneut zur Flucht gezwungen waren. Am Ende landete die Familie in einem Internierungslager für unerwünschte Ausländer im südfranzösischen Agde. Der damals 12-jährige Max Turteltaub konnte von dort mit Hilfe des Verbands der Jüdischen Pfadfinder und anderer Hilfsorganisationen entkommen und wurde nach Dieulefit gebracht. Seine Eltern sollte er niemals wiedersehen.
Falsche Identität, falsche Geschichte
„An einem Sonntag, so hat man mir das jedenfalls erzählt“, sagt Max Turteltaub, „hat der Pastor damals in der Predigt die Frage gestellt: Gibt es unter euch welche, die bereit sind, protestantische Waisenkinder aufzunehmen? Er hat nicht gesagt, dass es sich um Juden handelte. Madame Rostaing hat daraufhin mit dem Pastor Kontakt aufgenommen und so bin ich bei den Rostaings gelandet, die natürlich genau wussten, dass ich kein Protestant war. Ich hatte einen falschen Namen, hiess Marcel Turneau und war, glaub' ich, offiziell in Aix-en-Provence geboren und meine Eltern waren verstorben. Ich hatte also eine falsche Identität und eine falsche Geschichte. Bei den Rostaings war ich einfach der Sohn der Familie. Sie hatten selbst einen Sohn, der war fünf Jahre älter und arbeitete auf dem Hof und eine Tochter, die jünger war und dann eben mich. Ich wurde nicht anders behandelt, als die beiden anderen. Das war dann eben einfach meine Familie.“
Der jetzt in Dieulefit ansässige Historiker, Bernard Delpal, früher Professor am Nationalen Forschungszentrum CNRS in Lyon, arbeitet seit 15 Jahren über die Geschichte des Rettungswiderstands in dieser Region. Er hat einen Verein gegründet, der „Patrimoine, Mémoire , Histoire“ heisst und sich um die Aufarbeitung der besonderen Geschichte von Dieulefit in jenen Jahren kümmert, Tagebücher, Fotos, Briefe und Dokumente aus jener Zeit zusammenträgt und regelmässig auch Ausstellungen organisiert.
„Neben dem klassischen, bewaffneten Widerstand“, resümiert Delpal, „gab es, vor allem hier im Südosten Frankreichs, einen beutenden zivilen Widerstand. Dazu gehörten Menschen, die nicht zu den Waffen griffen, sich aber sagten: Ich kann die Deutschen zwar nicht verjagen, aber ich werde ihnen die Arbeit erschweren und so viele Menschen wie möglich verstecken und retten. Dazu kam, besonders ab Sommer 1942, bei vielen der Wille, die Kollaborationspolitik der Vichy-Regierung scheitern zu lassen.
"Auch wenn Blut fliesst, ein gerechter Kampf"
Von dieser Haltung der Menschen in der Region proftierten in Dieulefit damals auch aussergewöhnlich viele Künstler und Intellektuelle. Im schon erwähnten Privatgymnasium „La Roseraie“ unterrichtete zum Beispiel ein 25-Jähriger das Fach Französisch, der sich als Dichter bereits einen kleinen Namen gemacht hatte: Noël Mathieu. Später wurde er unter dem Namen Pierre Emmanuel bekannt und in den 60er Jahren sogar Mitglied der Académie Francaise. In seiner feierlichen Antrittsrede unter der Kuppel der Akademie verneigte er sich ausdrücklich vor Dieulefit mit den Worten:
„In Dieulefit ist jeder dem anderen der Nächste. Jener, der dort ankommt, gerädert von einer furchtbaren Busfahrt, ausgehungert, vielleicht verfolgt und terrorisiert von den Blicken, die auf ihn gerichtet wurden, darf hier aufatmen, der Frieden wird ihm endlich die Hand reichen. Er wird sich unter seinesgleichen fühlen, denn er ist hier einfach der Nächste, für den der Tisch immer gedeckt ist. Meine Anhänglichkeit an Dieulefit ist stets dieselbe geblieben, meine Dankbarkeit gegenüber denen, die zwischen 1940 und August 1944 der Gerechtigkeit und der Freiheit die Treue gehalten haben, bleibt unverändert. Ich habe in Dieulefit meine schönsten Stunden erlebt. Ich bin glücklich darüber, dass mich dort einige immer noch als ihren Mitbürger und Freund betrachten.“
Man nannte den gläubigen Katholiken Pierre Emmanuel damals den „katholischen Paul Eluard“, dessen Poesie 1938/39 noch die eines puren Ästheten war. In Dieulefit hat sie sich dann in eine Poesie des Widerstands gewandelt. Hier schrieb er das Gedicht „Les dents serrées“ - „Mit zusammengebissenen Zähnen“, das damals epochemachend war und dank eines Schweizer Verlags auch gedruckt und illegal wieder nach Frankreich zurück kam. Grob gesprochen sagt Pierre Emmanuel darin: "Wenn nötig, wird Blut fliessen. Mein katholischer Glaube, schön und gut, aber dieser Kampf, auch wenn Gewalt angewendet werden muss, ist ein gerechter Kampf."
Drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit
Neben Pierre Emmanuel verbrachten auch die Schriftsteller Pierre-Jean Jouve, René Char und Pierre Leyris, sowie der Verleger Pierre Seghers jeweils einige Monate in Dieulefit. Vor den Toren der Kleinstadt überlebte neben dem bereits erwähnten Willy Eisenschitz ein anderer Maler: WOLS, mit richtigem Namen Alfred Otto Wolfgang Schulze aus Berlin. Beiden hatte man eine Hütte in der freien Natur überlassen. Frankreichs berühmteste Pianistin, Yvonne Lefébure, die sich weigerte unter deutscher Besatzung Konzerte zu geben, bewohnte eine Villa am südlichen Stadtrand. Und auch der grosse Historiker, Pierre Vidal-Naquet, hat damals als Jugendlicher zahlreiche Wochen bei Verwandten in der Pension „Les Brises“ verbracht, die heute ein Restaurant ist und später den Satz geprägt: „Während der deutschen Besatzung gab es in Frankreich drei intellektuelle Zentren: Paris, Lyon und Dieulefit.“
DAS INTERNAT BEAUVALLON
Einen Kilometer vom Stadtkern Dieulefits entfernt, in einem kleinen Seitental am Fuß der Berge Le Roc und Montmirail, liegt das Internat Beauvallon, eine Ansammlung von zehn Gebäuden, die über mehrere Hektar verstreut sind. Dieser etwas abgelegene Ort, der für ein Refugium wie geschaffen scheint, hat bei der Rettung der Verfolgten in Dieulefit während der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs eine zentrale Rolle gespielt.
Entlang der Zufahrt ist heute ein Lavendelfeld gepflanzt und mächtige Esskastanienbäume beherrschen den Eingang zum leicht ansteigenden Gelände. Das Haupthaus des Internats im oberen Teil, knapp vor den steil aufsteigenden Bergen, ähnelt einem Schweizer Chalet. Daneben sind in kleineren Gebäuden die Bibliothek, eine Schreiner- und eine Töpferwerkstatt untergebracht, und in einem geschützten Winkel befindet sich ein kleines Freibad. In der Mitte des Hauptplatzes ragen drei grosse Zedern in den Himmel, um deren Wurzeln ein Herz aus grossen Steinen angelegt ist. Früher musste jeder Neuankömmling beim Eintritt in die Schule dieses Herz ein Mal umrunden.
Problemkinder
Das Internat Beauvallon war von Anfang an keine gewöhnliche, sondern eine andere, eine so genannte "Neue Schule" – Montessori, Summerhill und die Odenwaldschule dienten als Vorbilder. Beauvallon ist 1929 von der Tochter einer weiteren großen protestantischen Familie aus Dieulefit gegründet worden: Marguerite Soubeyran. Die charakterstarke junge Frau, die meist mit nackten Füssen in Sandalen und einer Gauloise im Mundwinkel zu sehen war, war nach dem ersten Weltkrieg in Paris zunächst Krankenschwester geworden. Knapp zehn Jahre später, vor der Eröffnung ihres Internats, hatte sie sich am Erziehungswissenschaftlichen Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf ausbilden lassen. Ein Institut, das damals unter der Leitung von Jean Piaget eine der Hochburgen der Reformpädagogik in Europa war.
Das Internat nimmt heute noch, wie in seinen Anfangsjahren, so genannte Problemkinder auf, und so manche der sehr wenigen Regeln, die Marguerite Soubeyran festgelegt hatte, gelten noch heute. Etwa, dass die Kinder hier in der freien Natur kommen und gehen können, wie sie wollen, allerdings nur so weit weg, dass sie die Glocke noch hören können, die an der Aussenfassade des Haupthauses hängt und heute wie damals zum Essen, zur Arbeit und zu den Versammlungen ruft.
Ménage à trois
Diejenige, die einem das erzählt, heisst Anne Lachens. Sie ist Mitte 50, schlank, dynamisch und sehr direkt. Die erklärte Musikliebhaberin führt den Vorsitz im Trägerverein des Internats von Beauvallon, und sie ist die Enkelin von Marguerite Soubeyran und Catherine Krafft, der anderen Mitbegründerin der Schule von Beauvallon. Marguerite Soubeyran hatte die Schweizerin während ihres Studiums in Genf kennengelernt und sie überzeugt, mit ihr nach Dieulefit zu kommen. Anne Lachens nennt diese beiden Frauen “meine Großmütter”. Diese Großmütter waren damals ein lesbisches Paar, haben in den 30er Jahren selbst nicht weniger als vier Kinder adoptiert, darunter Anne Lachens' Mutter und lebten später mit der dritten der so genannten „Guten Feen von Beauvallon“, Simone Monnier, eine Ménage à trois.
Auf die Bitte hin, ihre Grossmutter Marguerite Soubeyran zu charakterisieren, sagt Anne Lachens: „Sie war sehr impulsiv und enthusiastisch. Sie hatte stets irgendwelche neuen Ideen und eine enorme Ausstrahlung. Sie war wie ein Magnet, zog die Menschen regelrecht an. Diese drei Frauen", fährt sie fort, „haben hier in der Praxis wirklich das gelebt, was sie empfunden, gesagt und woran sie geglaubt haben, gegen alle Widerstände, ja um den Preis ihres Lebens, wenn es nötig gewesen wäre.“
Bindeglied zum bewaffneten Widerstand
Marguerite Soubeyran, die in Beauvallon von Kindern und Erwachsenen nur „Tante Marguerite“ oder „Magui“ genannt wurde, war mit dem Status der Tochter einer bedeutenden Familie am Ort die treibende Kraft des zivilen Widerstands in Dieulefit und ab 1943 auch ein wichtiges Bindeglied zum bewaffneten Widerstand in der Gegend.
In den Kriegsjahren waren allein ihre Schule und die nahe gelegene “Pension Beauvallon” Zufluchtsort für hunderte Verfolgte. „Marguerite Soubeyran ist wie die kapitolinische Wölfin, nur dass sich nicht zwei Knaben, sondern das ganze Internat unter ihr befindet“, schrieb damals einer der Flüchtlinge in das Gästebuch des Internats. „Alle, die hierher geflohen waren, hatten nicht den Eindruck, dass man sie nur einfach versteckte, sondern fühlten sich in Beauvallon wirklich aufgenommen“, meint Marguerite Soubeyrans Enkeltochter Anne Lachens. In Beauvallon habe damals diese Art von Großzügigkeit geherrscht, die keinerlei Gegenleistung erwartete.
“Hier sind Sie in Sicherheit“
Die heute 85-jährige Pascaline Cahen kann dies bestätigen. Sie war 13 als sie mit ihrer Familie nach der Besetzung der südlichen Hälfte Frankreichs durch Hitlers Truppen und der zunehmenden Razzien gegen die jüdische Bevölkerung Ende 1942 aus Toulon am Mittelmeer nach Dieulefit geflohen war und damals, den Rat einer Freundin der Familie befolgend, zunächst in der Schule von Beauvallon anklopfte. Dort wurde sie von Pastor Monnier empfangen, dem Vater von Simone Monnier, einer der drei so genannten „Guten Feen von Beauvallon“. „Er ähnelte“, so Pascaline Cahen, „ein wenig meinem eigenen Großvater, war ein sehr warmherziger Mann und hat damals zu uns gesagt: 'Sie werden jetzt bei uns bleiben. Hier sind Sie in Sicherheit'. Das sind Worte, die wir nie vergessen haben. Und diese Worte haben uns das Leben gerettet. In Beauvallon herrschte so etwas wie menschliche Wärme und Vertrauen. Ich bin dort plötzlich wieder Menschen begegnet, die mir geholfen, die mich aufgewertet und mich ermutigt haben.“
Das Internat beherbergte in jenen Jahren rund 100 Kinder, die doppelte Anzahl wie vor dem Krieg. Mehr als vier Jahre lang haben es die guten Feen von Beauvallon geschafft, diese Kinder, von denen viele völlig mittellos waren, zu beschützen, zu ernähren, zu kleiden und einen einigermaßen normalen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Pascaline Cahen, die damals unter dem Namen Colomb eingeschrieben war, erinnert sich: „Wir hatten jeden Morgen diese berühmte Versammlung. Wir saßen da in einem großen Raum im Kreis zusammen und Tante Marguerite las uns entweder etwas vor - Charles Dickens hab‘ ich in Erinnerung -, manchmal zeigte sie uns Reproduktionen von Gemälden oder aber sie liess uns schöne Musik hören, meistens war es Bach. Am Ende wurde dann eine Minute lang geschwiegen. Das war etwas ganz Außerordentliches, jeden Morgen zu Tagesbeginn, diese Versammlung.“
"Le silence de la mer"
Pascaline Cahen bekommt heute noch glänzende Augen, wenn sie an einen ganz besonderen Abend im Jahr 1943 denkt. „Man hat uns damals doch tatsächlich „Das Schweigen des Meeres“ vorgelesen. Unglaublich. Eines Abends hatte uns Tante Marguerite gesagt: 'Ihr aus der oberen Klasse, ihr kommt nach dem Abendessen zu uns, man wird euch etwas vorlesen'. Es waren auch Freunde aus der Pension Beauvallon, die drei hundert Meter weiter unten im Tal lag, gekommen und alle Lehrer.
Man saß in einem großen Kreis zusammen, wir Kinder an einem Tisch neben der Französischlehrerin, Mademoiselle Gille. Sie hat diesen Text dann an einem Stück gelesen. Es herrschte ein Schweigen im Raum, das etwas Zauberhaftes hatte. Erst hinterher hat sie Namen und Titel genannt: VERCORS, LE SILENCE DE LA MER. Ich war die einzige in unserer kleinen Gruppe von Kindern, die durch diesen Text richtig aufgewühlt war. Es war schon spät am Abend, als ich mir dann gesagt habe, der Mann, der das geschrieben hat, der denkt an uns! Keine Ahnung, warum mir dieser Satz in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist.“
“Das allerliebste aller Asyle“
Jean Brulers im Untergrund erschienenen, von Jérôme Lindon und den Editions Minuit veröffentlichten Text hatte die kommunistische Schriftstellerin und Journalistin Andrée Viollis nach Dieulefit gebracht. Sie wohnte damals in der Pension Beauvallon, über die sie später schreiben sollte: „Die Pension liegt mitten in der Landschaft, ein altes, niedriges und langgestrecktes Bauernhaus, in wilden Wein gehüllt, mit seinem sprudelnden kleinen Bach und seinen Pappeln, die im Frühling und im Herbst wie grosse goldene Kerzen leuchten. Für uns alle, für uns Unbehauste, war sie das geheimste, das allerliebste aller Asyle. Jeder Gast hier trug seine Geschichte, seine falschen Papiere, seine Tragödie mit sich. Hinter diesen Mauern kannten die meisten überwältigende Angst und grossen Schmerz.“
In der Pension wohnte unter anderen auch der Philosoph Emmanuel Mounier, der Gründer der bereits verbotenen Zeitschrift ESPRIT, später kamen etwa Clara Malraux und ihre Tochter Florence hinzu, kurzzeitig war auch der Schriftsteller Jean Giono präsent. Und einige hundert Meter weiter, im Internat von Beauvallon selbst, lebte Henri Pierre Roché, der dort ein wenig Turnunterricht und Englischstunden gab, den Kindern das Schachspielen beibrachte und versuchte, ihnen auch den Boxsport nahe zu bringen.
Jules et Jim
Der 60-jährige Kunstsammler und Schriftsteller, mit dem Auftreten eines Dandys, kannte Picasso und zählte Marcel Duchamp zu seinen Freunden. Roché erfuhr hier in Dieulefit Anfang 1941 vom Tod seines alten Gefährten, des deutschen Schriftstellers Franz Hessel, der in Sanary am Mittelmeer gestorben war.
Diese Nachricht war der Auslöser dafür, dass Roché in seinem Dachzimmer des Internats von Beauvallon mit der Niederschrift des Romans “Jules et Jim” begann, dessen Dreiecks-Geschichte erst in den 60er Jahren durch François Truffaults Verfilmung weltbekannt wurde. Ein Verein mit dem Namen „Les amis de Jules et Jim“ hält heute noch jeden Sommer im Internat von Beauvallon ein dreitägiges Kolloquium zu Henri Pierre Roché ab. Für diesen Sommer hatte Stéphane Hessel schon seit langem seine Teilnahme zugesagt - sein Tod im Frühjahr hat anders entschieden.
Henri Pierre Roché
Violette Bissat war bis zur ihrer Pensionierung Professorin für Sinologie am Institut für orientalische Sprachen in Paris. Als Jugendliche hatte sie von 1938 bis 1945 in Beauvallon gelebt und war am Ende für die Kinder des Internats eine Art grosse Schwester. Sie erinnert sich noch gut an Henri Pierre Roché.
„Für uns war er besonders interessant, weil er uns wunderbare Geschichten erzählte. Wir Schüler hatten ihn einmal zum Essen eingeladen und er erzählte uns von seinen Reisen quer durch Europa, zum Beispiel nach Rom, wo er angeblich einen russischen Prinzen getroffen hatte. Das war alles sehr malerisch und wir mochten ihn deswegen sehr. Er wohnte hier in einem Zimmer im so genannten 'Kleinen Haus'. Von Zeit zu Zeit mussten wir durch dieses Zimmer gehen, denn es war neben dem Speicher, wo die Kostüme für unsere Theateraufführungen lagerten. Er hatte einen großen Tisch vor dem Fenster, auf dem lagen natürlich viele Papiere, aber vor allem standen dort auch rund 15 Pfeifen, die uns ganz besonders faszinierten.“
Miniaturaquarelle für eine Million Dollar
Roché, der Kunstsachverständige, gewann schnell auch das Vertrauen von zwei Künstlern, die in unmittelbarer Nähe von Beauvallon hausten: der Bildhauer Etienne Martin, dem Roché assistierte, als er in einem der nahen Sandsteinbrüche eine seitdem wieder verschwundene, sechs Meter hohe „Sandmadonna“ direkt in einen der Abhänge hinein meiselte. Der andere war WOLS, an den sich heute fast jeder alte Mensch in Dieulefit noch erinnert, als trinkwütigen Kauz, den man regelmässig im Strassengraben auflesen musste. "Seine erste Sorge“, schrieb Henri Pierre Roché in sein Tagebuch, „ist, die Schnapsflasche zu füllen. Wenn sie voll ist, fühlt er sich ruhig. Er trinkt von Zeit zu Zeit einen ganz kleinen Schluck, regelmäßig, den ganzen Tag. Er feuchtet sich an wie der Docht im Feuerzeug."
Dies hinderte WOLS nicht daran, in jener Zeit faszinierende Miniaturaquarelle zu malen, nicht grösser als ein Handteller, die seine Frau den Bürgern von Dieulefit gegen Alkohol und ein wenig Essen verkaufte. Heute hängen diese Werke des Künstlers, der nach dem Krieg in Paris von Jean-Paul Sartre auch finanziell unterstützt wurde bevor er nur 38-jährig verstarb, unter anderem in Chicago und manche erzielten bei Auktionen jüngst Preise von über einer Million Dollar.
In der Töpferei versteckt
Im Internat von Beauvallon war Henri Pierre Roché zu jener Zeit nicht der einzige, etwas merkwürdige Gelegenheitslehrer, den die Schule aus der grossen Flüchtlingsgemeinde im Ort rekrutiert hatte. „In Dieulefit“, so Violette Bissat, „lebte auch die Familie Springer. Der Vater, die Mutter und die Zwillinge, Henri und Georges. Monsieur Springer, der von Beruf Historiker war, gab uns Geschichtsunterricht, den er immer mit großer Sorgfalt vorbereitete. Er hat wirkliche großartige Geschichtsstunden gehalten und war immer sehr präzise.“
Die beiden Söhne des aus Heidelberg emigrierten Professors für Wirtschaftsgeschichte, Max Springer, waren in Beauvallon Mitschüler von Violette Bissat, bevor sich beide 1944 dann den Widerstandsgruppen in der Gegend anschlossen. Der Lebenslauf der Springer-Zwillinge ist in den Augen des Historikers Bernard Delpal ein Paradebeispiel für die außergewöhnlich starken Bindungen, die in jenen Jahren zwischen Dieulefit und den Flüchtlingen aus Frankreich und ganz Europa entstanden sind. Delpal weiss von einem Fall, wo der Gerettete später bis an sein Lebensende seinen Rettern in Dieulefit eine monatliche Überweisung zukommen liess oder von einem älteren Herren, der jeden Sommer in einer der still gelegten Töpfereien gesehen wurde. Erst vor wenigen Jahren hat ihn jemand angesprochen und dabei erfahren, dass er als Kind in eben dieser Töpferei versteckt war und mit den Nachfahren seiner Retter bis heute Kontakt hat.
Kampf gegen die deutsche Besatzung
Und Bernard Delpal nennt noch andere Beispiele. „Der Werdegang einiger junger Juden aus Deutschland, die damals hier lebten, ist schon aussergewöhnlich. Sie hatten einen chaotischen Weg hinter sich, waren nach ihrer Ankunft in Frankreich erst in den Lagern im Süden eingesperrt, viele in Les Milles, konnten dann herausgeholt werden und haben es geschafft, hierher nach Dieulefit zu flüchten. Sie wurden dann hier eingeschult, lernten Französisch und machten 1943 oder 1944 sogar ihr Abitur. Unmittelbar danach engagierten sie sich in bewaffneten Widerstandsgruppen, um gegen die deutsche Besatzung zu kämpfen. Sie haben als Jugendliche in Dieulefit ihre geistige Ausbildung in der Schule von Beauvallon und dann im Gymnasium La Roseraie genossen und dort sozusagen ihre geistigen Waffen mit auf den Weg bekommen."
"Dort hat man ihnen z.B.", so Delpal weiter, "die Autoren der Antike zu lesen gegeben, mit Bezug zur damaligen aktuellen Situation. Man könnte sagen: Die, die da gesät haben, haben geerntet. Denn diese jungen Leute haben sich alle engagiert und gehörten am Ende zu den FFI, den Streitkräften des französischen Widerstands. Die Springer-Zwillinge sind so ein Beispiel. Sie haben dann nach dem Krieg 1946 und 1947 sogar die französische Staatsbürgerschaft angenommen und ihr weiteres berufliches und familiäres Leben sollte sich in Frankreich abspielen. Henri konvertierte, wurde Jesuit und ließ sich in Südfrankreich nieder. Georges kam nach seinem Studium sogar wieder hierher zurück und wurde einer der beliebtesten Ärzte von Dieulefit. Er hat hier von 1954 bis 1986 gearbeitet und war auch danach noch ehrenamtlich für das Krankenhaus tätig.“
Angst vor einer Rückkehr der Deutschen
Georges Springers hoch betagte Witwe lebt heute noch in einem der schmalen, wenig praktischen, vierstöckigen Häuser aus dem 18. Jahrhundert, die eng aneinander geschmiegt an der schmalen Hauptstrasse stehen. Ihr Mann hatte in den 60er Jahren alles daran gesetzt, gerade dieses Haus zu erwerben, in dem man ihm und seinen Eltern ab 1939 in den zwei Zimmern im obersten Stockwerk Unterschlupf gewährt hatte. Ein kleiner Platz in Dieulefit heisst heute „Square Georges Springer“.
Georges Springer und sein Zwillingsbruder Henri hatten während ihrer Internatsjahre in Beauvallon, wie auch ihre Mitschülerin, Violette Bissat, in der permanenten Angst gelebt, die deutsche Wehrmacht könnte aus dem 30 Kilometer entfernten Rhônetal doch einmal nach Dieulefit kommen.
Vorbereitung für den Ernstfall
„Es gab durchaus mehrmals Alarm“, erzählt Violette Bissat. „Einmal, als ich gerade in Dieulefit war, bei den Eltern meiner Freundin Pascaline Cahen, die während des Kriegs “Colomb” hießen. Wir hatten gerade zusammen gegessen, da hat jemand an die Tür geklopft und Monsieur Cahen etwas ins Ohr geflüstert. Daraufhin hat er zu uns gesagt: 'Kinder, ihr geht sofort in die Schule nach Beauvallon zurück, aber nicht auf dem normalen Weg, sondern über das Plateau da oben. Auf dem Weg warnt ihr dann noch Frau Gottesmann und sagt ihr, dass ein Angriff droht!' Wir sind auf dem Weg nach Beauvallon dann sogar einigen Widerstandskämpfern mit ihren Gewehren begegnet. Und als wir an der Schule ankamen, war sie völlig leer, alle Kinder waren verschwunden. Tante Marguerite hat zu mir gesagt, du überwachst jetzt die Straße, die zum Internat führt und zu meiner Freundin, Pascaline: ‚Du kommst mit mir, wir gehen Papiere vernichten‘. Nach einer Stunde ist sie zurückgekommen und sagte: 'Heute Nacht schlafen wir besser in der Hütte'.“
Diese Hütte war eines von mehreren Verstecken, die es in der Umgebung der Schule von Beauvallon für den Ernstfall gab. An einigen Stellen hatte man auch Höhlen in die Hänge aus Sandstein gegraben. Alle Kinder des Internats kannten diese Orte für den Fall eines Alarms. Sie bildeten dann Gruppen von nicht mehr als 10 bis 12. Die Älteren kümmerten sich um die Jüngeren und jeder wusste genau, wohin er zu gehen hatte. Sie machten vor allem regelmässig Übungen, aber manchmal gab es auch wirklich Alarm. Anne Lachens Mutter hatte ihr erzählt, dass sie mehrmals mit Marguerite Soubeyran die Nacht in der Hütte des Malers Eisenschitz verbracht hatte, die auch als Fluchtort diente. Es gab darin eine offene Etage, wo die Kinder oben schlafen konnten. Man hatte ihnen erklärt, im Ernstfall durch das Fenster nach draußen zu springen und im Wald zu verschwinden.
Zitadelle des Widerstands
Ab Ende 1943 hatte man im Untergeschoss des Haupthauses im Internat von Beauvallon auch eine provisorische Krankenstation eingerichtet, wo Verwundete gepflegt werden konnten. Denn auf dem Berg, 300 Höhenmeter über dem Internat, existierte ein Widerstandsnest von jungen Männern, die den Zwangsarbeitsdienst in Deutschland verweigert hatten. Sie hatten dort auch einen Sender, und es wurden da oben Waffen per Fallschirm abgeworfen. Auch diese 15 jungen Leute sind von der Schule unten in Beauvallon versorgt worden.
Die bereits zitierte Schriftstellerin und Journalistin Andrée Viollis schrieb damals nicht ohne Pathos: „Für mich hat die Schule von Beauvallon zwei Gesichter, die ich niemals ohne tiefe Emotionen werde beschreiben können. Das eine Gesicht ist das Kinderparadies mit den Schreien, dem Lachen, den Liedern und Tänzen und mit seinen gütigen Feen, die sanft und aufmerksam sind. Das andere Gesicht ist das einer Zitadelle des Widerstands, herb und stark, mit den verfolgten Flüchtlingen, den jungen Männern aus dem Maquis und seinen Verletzten. Keiner dieser Menschen hat hier je an die Tür geklopft, ohne dass sich ihm hilfreiche Hände entgegengestreckt hätten und ohne dass er auf Grosszügigkeit und Herzlichkeit gestossen wäre und auf Menschen, die bereit waren, zuzuhören, zu helfen, Vertrauen herzustellen, sowie Mut und Hoffnung zu geben. Beiden Gesichtern von Beauvallon ist gemein, dass in ihnen das höchste aller Güter, die Freiheit erstrahlt.“
DEUTSCHE KOMMUNISTEN IM FRANZÖSISCHEN WIDERSTAND
„Ich heisse René Brus oder Brus, René. Mein Name im Widerstand lautete Brussange." So stellt sich der heute 90-Jährige vor, der zu den rund 15 jungen Leuten einer Widerstandsgruppe in den Bergen gehörte, 300 Höhenmeter oberhalb der Schule von Beauvallon. Dem späteren Stadtpolizisten von Dieulefit, einer, für den De Gaulle ein Gott war, kann man heute noch tagtäglich kurz vor Mittag mit Stock und Schirmmütze und stets frisch rasiert auf seinem Gang durch die Altstadt von Dieulefit begegnen. Damals, Ende 1942, war er als 19-Jähriger einem Jugendarbeitslager des Vichy-Regimes entflohen, bei seinem Onkel in der Nähe von Dieulefit untergetaucht und, nachdem ihn die Gendarmen dort gesehen und ein Auge zugedrückt hatten, in den Widerstand gegangen.
Hier landeten Agenten und Waffen
„Dieulefit“, so erzählt René Brus, „war eine wichtige Basis für Fallschirmabwürfe. Hier landeten sowohl Agenten, als auch Material und Waffen. Die Firma Jouve und andere stellten dann ihre Lastwagen zur Verfügung, mit denen man die Sachen weiter transportierte. Die Waffen waren meist unter Holz versteckt. Man brachte sie von hier sogar bis nach Saint-Etienne und ins Nachbardepartement Ardèche, ja sogar bis ans Mittelmeer. Oben auf der Hochebene in Comps war das Gelände, wo viele wichtige Offiziere des Widerstands und Zivilpersonen mit dem Fallschirm gelandet sind. Ich hab ungefähr 50 gezählt, das ist nicht übertrieben."
Das Hochplateau in 700 Metern Höhe oberhalb von Dieulefit ist karges Land, wo Getreide auf steinigen Feldern nur spärlich wächst, Krüppeleichen und Esskastanien die Hügel bedecken, Ziegenherden auf Brachland zu Hause sind und ein einziger Bauer noch Fleischtierhaltung betreibt. Der Blick reicht von hier über dutzende Kilometer nach Norden bis zum Vercors und nach Westen über das Rhônetal hinaus bis zu den Höhenzügen der Ardèche.
Von der Gestapo verfolgt
Das Dorf Comps besteht aus weit verstreuten ehemaligen Bauernhöfen, von denen die meisten heute renovierte Zweitwohnsitze sind. Während der deutschen Besatzung versorgten diese Höfe nicht nur das Internat von Beauvallon unten im Tal mit Essbarem, sondern beherbergten auch den Sender der Widerstandsgruppe und dienten, wenn es sein musste, gefährdeten Schülern aus dem Internat und den per Fallschirm Abgesprungenen als Unterschlupf.
In einem der geduckten Bauernhäuser aus rohem Stein, in der „Ferme du Lauzas“, war damals zwei Jahre lang ein Ehepaar versteckt, das man vorher in Dieulefit nie gesehen hatte. René Brus ist ihm damals häufig begegnet. „Es waren zwei Kommunisten, die von der Gestapo gesucht wurden. Sie haben sich als Ehepaar Bauer und als Elsässer ausgegeben. In Wirklichkeit waren sie gar nicht richtig verheiratet. Eines Tages, nach einem Fallschirmabwurf, ist die Frau mit uns jungen Leuten in einen der Bauernhöfe mitgekommen, wo man uns verpflegt hat. Sie hatte ein harsche Stimme und einen sehr beeindruckenden Blick. Man merkte sofort, dass sie eine starke Persönlichkeit war. Der Mann arbeitete hier viel in den Gärten, half diesen und jenen im Ort. Einmal hab ich im Hof der beiden auch Louis Aragon gesehen. Ich wusste damals aber gar nicht, wer das war.“
Unterschlupf für den damals berühmtesten Schriftsteller
In der Tat hat das Ehepaar Bauer Ende 1942 knapp sechs Wochen lang dem damals berühmtesten Schriftsteller Frankreichs und Mitglied der Kommunistischen Partei, Louis Aragon, sowie seiner Frau, Elsa Triolet, in ihrem notdürftig restaurierten Hof Unterschlupf gewährt - ein Unterschlupf, durch den der Wind pfiff und in dem es vor Ratten wimmelte.
Ein Zusammenleben, das nicht ohne Spannungen abging. Aus späteren Aufzeichnungen der Gastgeber kann man deutlichen herauslesen, dass die Stars der damaligen französischen Literaturszene das Ehepaar wie simples Dienstpersonal und nicht wie Genossen behandelt haben.
Deutsche Kommunisten
Der Historiker Bernard Delpal hat mit Hilfe deutscher Kollegen erst vor wenigen Jahren im Bundesarchiv in Berlin entdeckt, wer dieses angeblich elsässische Ehepaar tatsächlich war.
„Sie waren in der Vorkriegszeit zwei leitende Funktionäre der deutschen kommunistischen Partei gewesen. Ihre echten Namen lauteten: Ella Schwarz und Hermann Nuding. Ella Schwarz war Berlinerin und Nuding kam aus Stuttgart. Sie hatten damals den klassischen Weg der deutschen Kommunisten hinter sich: Sie waren zunächst nach Prag geflohen, dann kam Moskau und die Komintern und eine professionelle Ausbildung zum Untergrundkämpfer, anschliessend waren sie im Spanienkrieg und am Ende in Frankreich. Beide befanden sich nach der Kriegserklärung Ende 1939 in Lyon und wurden erst mal in verschiedenen Lagern eingesperrt."
"Das war", so Delpal, "noch vor der Zeit des Vichy-Regimes, als deutsche, antifaschistische Flüchtlinge von der französischen Republik als potentielle Spione und Mitglieder der 5. Kolonne betrachtet wurden. Beide kamen dann aber irgendwann frei und trafen sich in Lyon wieder.“
Katholische Taufscheine für deutsche Kommunisten
1942 mussten Ella Schwarz und Hermann Nuding, der nach dem Krieg noch zwei Jahre lang für die KPD in Bonn im 1. deutschen Bundestag sass, aber aus Lyon verschwinden. Diesen beiden deutschen Kommunisten wurde damals ausgerechnet von Abbé Glasberg geholfen, dem Chef des katholischen Widerstandsnetzes in der Metropole am Zusammenfluss von Rhône und Saône.
Abbe Glasberg war ein Deutschjude aus Mitteleuropa, der zum Katholizismus übergetreten und in Lyon die rechte Hand von Kardinal Gerlier war, des Primas von Gallien, der wichtigsten Person der katholischen Kirche Frankreichs. Glasberg erreichte bei Kardinal Gerlier, dass man Schwarz und Nuding unter dem Namen Bauer traute und ihnen sogar katholische Taufscheine ausstellte. Und mit dieser Identität ausgestattet schickte Abbé Glasberg sie nach Dieulefit zu Marguerite Soubeyran und bat sie, die beiden zu verstecken.
Deutsche Kommunisten als Ausbildner
Marguerite Soubeyran, die in jener Zeit selbst Sympathisantin der Kommunistischen Partei war, hat Schwarz und Nuding auf dem Hochplateau von Comps untergebracht. „Und dort geschah“, so der Historiker Bernard Delpal, „etwas wirklich Erstaunliches. Obwohl die beiden anfangs kein Französisch sprachen, schafften sie es, sich unter der bäuerlichen Bevölkerung da oben zu integrieren. Ella Schwarz war von Beruf Schneiderin und ging zu den Familien und sagte: 'Ich kann ein wenig nähen, ich kann euch eure Kleidung ausbessern' etc.".
"Es hat dann nur wenige Monate gedauert", erklärt Delpal, "bis die beiden dann sogar zu den Organisatoren der Widerstandsgruppe von Comps wurden, die eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn das Hochplateau dort war von London als Gebiet für Fallschirmabwürfe ausgewählt worden. Die beiden haben die jungen Leute der Widerstandsgruppe ausgebildet, um die abgeworfenen Waffen entgegen zu nehmen und zu verstecken. Sie haben dann den Transport der Waffen organisiert und schließlich haben sie die jungen Leute auch an den Waffen ausgebildet.“
Ein Sender im Taubenschlag des Schlosses
Das Schloss von Comps, mit Grundfesten aus dem 13. Jahrhundert, war einer der Bauernhöfe, auf denen Ella Schwarz - nach dem Krieg Ella Rumpf und Frau des langjährigen DDR-Finanzministers – damals ihre Fertigkeiten als Schneiderin angeboten hat. In ihren schriftlichen Erinnerungen an die Zeit in Dieulefit erwähnt sie eine gewisse „Mutter Riaille“. Die heutige Hausherrin im Schloss, wo Fleischtierhaltung betrieben wird und einige Gästezimmer zur Verfügung stehen, ist dieser „Mutter Riaille“, die 14 Kinder hatte, nach dem Krieg noch begegnet.
„Ich bin nach meiner Heirat 1962 hierher gekommen und hab die alte Großmutter noch gekannt“, sagt Marilou Terrot. „Sie hat mir erzählt, dass sie hier im Schloss einen Sender hatten, der während des Kriegs da oben versteckt war. Sie hat mir auch gezeigt, wo das Versteck war, im Taubenschlag da oben. Und sie erzählte, dass sie sich nicht hatte einschüchtern lassen, als die Deutschen einmal hierher kamen und nach etwas suchten. Sie hat ihnen gesagt, sie sei Mutter von 14 Kindern und basta. Zwei Männer sind mit dem Motorrad gekommen und haben ihr die Pistole an die Schläfe gesetzt, sie hat aber nichts gesagt.“
“Leistet Widerstand!“
„Man darf nicht vergessen“, so Marilou Terrot, „dass die Leute hier Protestanten waren. Sie leisteten Widerstand in aller Stille. Diese protestantische Gemeinde hat sich gegenseitig sehr geholfen, sich die Hand gegeben. Die Protestanten erinnerten sich natürlich auch an Marie Durand, die im 18. Jahrhundert im Turm in Aigues Mortes als Protestantin eingekerkert war und damals schon gesagt hatte: ‚Leistet Widerstand!‘ Im Krieg muss man widerstehen, sich helfen, dem anderen zu essen geben oder ihn auch nur anhören, denn die Flüchtlinge waren doch Leute, die sehr gelitten hatten.“
Hermann Nuding und Ella Rumpf sollten – der eine aus der BRD, die andere aus der DDR - bis ans Ende ihres Lebens mit den Bauern auf dem Hochplateau von Comps Kontakt halten. Hermann Nuding ist zum Beispiel 1962 nach Comps zurückgekommen und hat sich mit den Kindern oder mit dem Bäcker im Dorf fotografieren lassen. Im Bundesarchiv in Berlin hat der Historiker Bernard Delpal Dutzende Briefe gefunden, die nach dem Krieg zwischen Nuding und der Bevölkerung des Hochplateaus geschrieben worden waren.
Vorübergehendes Einreiseverbot
“Hermann Nuding”, so Delpal, "hat die Menschen von Comps 1962 sogar zu Hilfe gerufen, weil er als deutscher Kommunist in Frankreich plötzlich Aufenthaltsverbot bekommen hatte. Das war auf Druck von Adenauer geschehen, dem De Gaulle nichts abschlagen wollte. Man hatte Nuding also untersagt, nach Frankreich zurückzukommen. Dieses Einreiseverbot ist letztlich 1963 wieder aufgehoben worden, auch dank der Aktionen der Einwohner von Comps, die eine Art Unterstützungskomitee gebildet und einen französischen Abgeordneten eingeschaltet hatten. Sie sagten laut und deutlich: 'Man wird doch einen grossen deutschen Widerstandskämpfer nicht daran hindern, nach Frankreich zurückzukommen, nur weil er Kommunist ist und dies ausgerechnet im Augenblick der deutsch-französischen Annäherung'.”
“Was da passiert ist”, so der Historiker Delpal weiter, “ist wirklich etwas Aussergewöhnliches. Denn es scheint eigentlich unmöglich, dass zwei wichtige Kader der deutschen Kommunistischen Partei damals so tief gehende Beziehungen mit der bäuerlichen Bevölkerung in diesem Teil Frankreichs knüpfen konnten.“
KEINER DENUNZIERTE
Das Rathaus von Dieulefit ist ein stolzer, dreistöckiger Bau aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, dem man gerade ein modernes und architektonisch gewagtes Kulturzentrum an die Seite gestellt hat. Hinter der hellen Natursteinfassade des Rathauses arbeitete während der Kriegsjahre eine junge Frau, die ganz entscheidend zum Erfolg des zivilen Widerstands in Dieulefit beigetragen hat: Jeanne Barnier. Sie war die Sekretärin des damaligen Bürgermeisters, Protestantin und Tochter der Leiterin des Kindergartens von Dieulefit.
Gefälschte Ausweise
Marguerite Soubeyran, die Direktorin des Internats von Beauvallon, die für ihre Schützlinge in der Schule und auch für so manchen Gast in der Pension Beauvallon Ausweispapiere, vor allem aber auch Lebensmittelkarten brauchte, hatte sie überzeugt, diese zu fälschen. Und Jeanne Barnier sollte das ausgezeichnet machen. Pascaline Cahen, damals eine der Schülerinnen im Internat von Beauvallon, erinnert sich noch sehr genau an eine Begegnung mit der jungen Sekretärin im Rathaus.
„Wir mussten damals die Grundschulreife ablegen und dafür brauchte ich einen Personalausweis. Ich hieß damals Colomb. Tante Marguerite hat zu meiner Mutter gesagt: ‚Versuchen Sie es im Rathaus, fragen sie dort nach der Sekretärin, vielleicht kann die etwas für sie tun‘. Wir sind dann ins Rathaus gegangen. Jeanne Barnier war ganz jung, 22 oder 23. Sie sagte: ‚Welchen Namen soll ich eintragen?‘ Ich sagte: ‚Colomb‘. Vorname? ‚Pascaline‘. Augenfarbe, Größe? Sie hat einen Stempel drauf gesetzt und mir meinen Personalausweis überreicht. So einfach ging das. Sie hat auf diese Art einen Haufen Menschen das Leben gerettet. Sie hat mehr als tausend solcher Personalausweise gefälscht und sogar einen auf ihren eignen Namen ausgestellt.“
„Man wird dich hängen“
Dabei arbeitete die junge Sekretärin sogar unter einem Bürgermeister, der 1941 vom Vichy-Regime eingesetzt worden war, nachdem sein Vorgänger sich geweigert hatte, den Eid auf Marschall Pétain zu schwören: Oberst Pierre Pizot.
Ein Teil der Bevölkerung von Dieulefit verhielt sich dementsprechend eher feindselig ihm gegenüber. Seine heute 93- jährige Tochter, Marine Jehanne- Pizot, erinnert sich:
„Viele Leute in der Stadt haben ihn damals behandelt, als wäre er Pétain selbst gewesen. Als ich eines Tages nach Hause kam - man musste da an einer Mauer entlang gehen - hatte jemand mit schwarzer Farbe an die Mauer geschrieben: Pizot du wirst gehenkt werden! Er hat das Wort gehenkt auch noch falsch geschrieben. Da ist es uns schon kalt den Rücken runter gelaufen - Pizot, man wird dich hängen.“
„Jeannette, sie brauchen Urlaub“
Inzwischen ist jedoch nicht nur die Tochter von Oberst Pizot davon überzeugt , dass das so genannte Wunder von Dieulefit, das Ausbleiben jeder Denunziation und jeder Verhaftung von Juden, politischen Flüchtlingen und Regimegegnern in der Gemeinde zum Gutteil auch dem Verhalten dieses Bürgermeisters zu verdanken war .
„Er war damals schon 65 und er hat getan, was getan werden musste, damit die Deutschen nicht bis Dieulefit kamen. Er fuhr nach Valence, zur Präfektur, kam wieder zurück und sagte der Bevölkerung: Verhaltet euch ruhig, seid vernünftig, macht keinen Lärm und keine Geschichten. So hat es 1942, 1943 keinerlei Vorfälle in Dieulefit gegeben.
Eines Tages hat er dann auch seine Sekretärin zu sich gerufen und ihr gesagt: ‚Jeannette, sie brauchen jetzt Ferien‘. Die antwortete: ‚Mir geht es gut, warum?‘ - ‚Jeannette, sie brauchen Urlaub! Sie nehmen jetzt ihr Gepäck und gehen zu ihren Leuten, sie haben doch im Nachbarort Freunde oder Familie, da gehen sie jetzt hin und ich melde mich wieder, wenn es so weit ist‘. Sie hat ihm dann gehorcht und das Ganze hat acht oder zehn Tage gedauert. Mein Vater wusste eben, dass die Deutschen eventuell kommen könnten und wollte nicht, dass sie geschnappt wird, da sie ja all diese falschen Papiere und Lebensmittelkarten ausgestellt hatte. Denn Papa war natürlich über alles auf dem Laufenden.“
„Ach, Gott!“ - "Da hatten wir verstanden"
Und nicht nur über das, was unter seinen Augen im Rathaus passierte. Schließlich war seine eigene Frau Geschichtslehrerin am Gymnasium “La Roseraie”, an der Dutzende jüdische Kinder von zahlreichen jüdischen Lehrern oder politisch Verfolgten unterrichtet wurden. In den verschiedenen Häusern der weit verzweigten Familie seiner Frau hatten ebenfalls Hilfesuchende Unterkunft gefunden, ja selbst bei ihm Zuhause verkehrten Menschen, die der Vichy-Regierung und den deutschen Besatzern ein Dorn im Auge waren.
„Wir haben in dieser Zeit viele Leute zu Hause empfangen“, erinnert sich Marine Jehanne-Pizot. „Joseph Kosma, der Komponist, war zum Beispiel bei uns. Es waren, wie man so sagt, durchaus empfehlenswerte Leute. Auch ein anderer Komponist, Fred Barlow, war da. Kosma wohnte in Beauvallon und kam zu meinen Eltern, um zu musizieren. Er hatte eine nette, blonde Frau, angeblich eine Amerikanerin. Eines Tages sind wir zusammen auf den Markt gegangen. Wir hatten Durst, und gingen einen trinken. Ich saß neben ihr und irgendwann ist ihr das Taschentuch runter gefallen. Als sie sich bückte, sagte sie plötzlich auf Deutsch : ‚Ach Gott!‘ Da hatten wir verstanden.“
Die jüdischen Familien gewarnt
Wie Bürgermeister Pizot haben in Dieulefit damals auch fast alle Gendarmen ein doppeltes Spiel gespielt und die jüdischen Familien häufig gewarnt, wenn sie wussten, dass die Vichy-Miliz in den Ort zu kommen drohte. Auch die Bauern in Dieulefit und Umgebung haben ihren Beitrag geleistet, nicht nur weil sie zahlreiche Menschen versteckten, sondern auch, indem sie die Lebensmittelkarten akzeptierten, von denen sie wussten, dass sie gefälscht waren.
Und schliesslich war für den Erfolg des Rettungswiderstands an diesem Ort gewiss auch die Tatsache mit entscheidend, dass viele Schlüsselstellen im gesellschaftlichen Leben von Dieulefit damals von Mitgliedern der protestantischen Gemeinde eingenommen wurden.
„Der Protestantismus hier im Dauphiné“, so der Historiker, Bernard Delpal, „ist ein Protestantismus, der den Israeliten, wie man die Juden damals nannte, nahe stand. Diese Nähe beruhte unter anderem auf ähnlichen historischen Erfahrungen. Schließlich handelt es sich um zwei verfolgte Minderheiten."
Protestantischer Widerstand
*Die Protestanten", so Delpal, "waren ja während der Religionskriege und unter Ludwig XIV. verfolgt worden. Man darf nicht vergessen, dass sie damals 10 % der Bevölkerung stellten. Das heißt, rund zwei Millionen Menschen hatten nach dem Widerruf des Edikts von Nantes 1685 keinerlei legalen Status mehr. Sie hatten die Wahl zwischen drei Möglichkeiten. Sie konnten fliehen und viele haben das getan, gingen nach Preußen, nach Hessen und in die Schweiz. Von da her rühren bis heute die engen Beziehungen zwischen Dieulefit und der Schweiz. Die zweite Möglichkeit war, sich zu bekehren. Das taten sie aber nur nach außen hin, im Grunde blieben sie ihrem Glauben treu. Und die dritte Lösung war der bewaffnete Widerstand, vor allem in den Cevennen, wo die so genannten CAMISARD einen regelrechten Krieg gegen Ludwig XIV. geführt haben."
"Diese Tradition des bewaffneten Widerstands", erklärt Delpal weiter, "lebte während des 2. Weltkriegs neu auf. Es gab hier ein Netzwerk von Widerstandsgruppen mit sehr starken protestantischen Traditionen. Und als einzelne Pastoren Ende 1941, Anfang 1942 hier zum Widerstand aufriefen, da stiess das bei den Protestanten auf offene Ohren.“Widerstand” war ein Wort, das in protestantischen Familien ein Echo fand.“
„Diese Frauen haben sich geliebt und beispielhaft gehandelt“
Das Städtchen Dieulefit ist vom gesellschaftlichen Leben her und politisch gesehen auch heute noch eine Besonderheit, ein Kleinod. In einer Region, in der das Wählerpotential der rechtsextremen Nationalen Front bei mindestens 30% liegt, ist der Abgeordnete von Dieulefit und Umgebung im Departementsrat ein Grüner und mit Christine Priotto hat der Ort eine engagierte sozialistische Bürgermeisterin, die sich jüngst zum Beispiel offensiv für die sehr umstrittene Homo-Ehe eingesetzt hat.
„Ich habe mich“, so die Bürgermeisterin, „auch aus folgendem Grund stark in diese Debatte eingemischt: Man spricht hier immer mit Hochachtung von Catherine Kraft und Marguerite Soubeyran, den Direktorinnen der Schule von Beauvallon. Aber niemand sagt, dass die beiden als Paar zusammen gelebt und sich geliebt haben. Homosexualität ist doch kein neues Phänomen. Diese Frauen haben sich geliebt, ein beispielhaftes Verhalten an den Tag gelegt und hunderte Kinder gerettet. Sie haben auch ihre eigenen Kinder erzogen und niemand würde es hier wagen, in Fragen zu stellen, dass sie das gut gemacht haben. Als Bürgermeisterin von Dieulefit, einer Stadt mit dieser Geschichte, musste ich da einfach klar Position beziehen.“
Freundschaftspakt mit Bissesao
In Dieulefit sind bis heute zahlreiche Spuren geblieben von der Banalität des Guten, vom Geist der Solidarität, des Widerstandes und der Toleranz, die die Gemeinde in den Jahren der nationalsozialistischen Besatzung ausgezeichnet haben.
Die kleine Stadt verfügt über eine außergewöhnliche Anzahl von sozial und politisch engagierten Vereinen. „Unterstützen und Teilen“ heißt zum Beispiel ein gut funktionierender Trödelmarkt. Ein sehr aktiver Verein beschäftigt sich mit dem Völkermord in Ruanda und hat die Stadt Dieulefit dazu gebracht, einen Freundschaftspakt ausgerechnet mit Bissesao zu unterzeichnen. Diese Stadt war das Epizentrum des Völkermords, an dem sich die französische Armee 1994 wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat. Denn sie war präsent und hat zugelassen, dass der Völkermord mit all seinen Schrecken und fürchterlicher Gewalt weiterging.
Erneut Ausländer verstecken
Ein so genanntes Bürgerkollektiv fördert in Dieulefit seit Jahren die Reflexion über ökologische und ökonomische Themen. Und ein Mal im Monat veranstaltet es eine Schweigerunde auf dem Hauptplatz der Stadt vor der evangelischen Kirche als Zeichen des Protestes gegen den Umgang mit Asylsuchenden im Land.
Es ist, als sei das heutige Engagement vieler Bürger von Dieulefit durchaus eine Resonanz der besonderen Vergangenheit des Ortes. So gesehen dürfte es auch kein Zufall sein, dass es in Dieulefit heute immer noch oder wieder Familien gibt, die durchaus bereit sind, illegale Ausländer ohne gültige Papiere zu beherbergen und, wenn nötig, zu verstecken.