Jürgen Habermas ist der berühmteste deutsche Sozialphilosoph der Gegenwart. Bis heute schlägt er seine Anhänger mit einer sehr einfachen These in den Bann: Ideal wäre es, wenn in einer Diskussion alle Teilnehmer unter keinerlei Zwängen und Rücksichtnahmen stünden und schlicht und einfach das vorbrächten, was ihnen gerade durch den Kopf geht oder was sie für ihr wirkliches Anliegen halten.
Ideale Sprechsituation
Als linker Philosoph glaubte Habermas, der sich bis heute immer wieder lebhaft zu Wort meldet, genau zu wissen, warum es diesen „herrschaftsfreien Diskurs“ nicht gibt. Denn der Einzelne, der gerne das Wort ergreifen würde, wird daran durch Machteliten, Institutionen und Rücksichtnahmen aller Art gehindert. Alles, was er sagen möchte, wird durch diese Herrschaft eingeschränkt. Daher gibt es in unserer Gesellschaft nicht die „ideale Sprechsituation“, wie Habermas seine Utopie genannt hat.
Habermas hat den Kern seiner Theorie in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt und ist ihr bis in die Gegenwart hinein treu geblieben. Bis heute liebt man ihn auch in Amerika dafür, in Frankreich und Italien sowieso. Denn es ist eine wunderbare Vorstellung, dass die Welt besser würde, wenn jeder nur das sagen könnte, was ihm seine unmittelbare Stimme der Vernunft eingibt.
Systemtheorie
Habermas hatte einen grossen Gegenspieler: den Soziologen Niklas Luhmann. Der ging nicht von der unhinterfragbaren Vernunft und Subjektivität des Einzelnen aus, sondern drehte die Perspektive um: Wir leben in einer Welt unterschiedlichster sozialer Systeme, in denen der Einzelne immer nur ein „Rädchen im Getriebe“ ist. Jeder handelt und redet so, wie es das jeweilige System von ihm erfordert. Luhmanns Kritiker fanden das zynisch.
Die Kritiker von Jürgen Habermas wiederum bemängelten, dass es die von ihm erdachte „ideale Sprechsituation“ gar nicht gebe. Wann kann jemand auf alle Rücksichtnahmen pfeifen und ungefiltert das herauslassen, was ihm gerade in den Sinn kommt?
Diese Kritik hat in unserer Zeit ihre Berechtigung verloren. Denn in den sogenannten Social Media sind Räume entstanden, die keinerlei Vorsicht oder Rücksichtnahme auf eventuelle Nachteile aufgrund unliebsamer Äusserungen mehr erfordern. Jeder kann jederzeit das sagen und äussern, was ihm in den Sinn kommt: herrschaftsfreier Diskurs.
Zahllose Anträge
Das ist eine völlig neue Form der Kommunikation, und sie hat sich rasend schnell aus dem Bereich der Social Media in alle Bereiche der Gesellschaft und vor allem der Politik ausgebreitet. Wir haben twitternde Präsidenten, und es gibt, wie das Beispiel Grossbritanniens zeigt, selbst in Fragen des nationalen Wohlergehens keine Vorgaben politischer Führung mehr. Jeder äussert das, was ihm gerade richtig erscheint, und entsprechend zahlreich sind die Anträge, über die das Unterhaus des britischen Parlaments gerade abgestimmt hat.
Die ideale Sprechsituation, von der Jürgen Habermas träumte und die seine Kritiker als blosse Utopie abtaten, erweist sich in der Realität als Albtraum: Wehe, wenn sie losgelassen. Politik funktioniert nicht ohne institutionelle Beschränkungen und die hierarchisch gegliederte Kanalisierung von Meinungen. Überall beobachten wir dieselbe Entwicklung. Als die Grünen Anfang der 1980er Jahre in den Deutschen Bundestag gewählt wurden, wollten sie alles anders machen als die „etablierten Parteien“. In erstaunlich kurzer Zeit lernten sie aber, dass auch ihre Fraktion Führung braucht, anstatt über jedes Thema endlos zu debattieren. So kamen sie an die Macht.
Berechenbarkeit und Stabilität
Spontaneität ist eine gute Sache, Subjektivität auch. Aber Gesellschaften und ihre Politik brauchen Strukturen, die nicht jederzeit in „herrschaftsfreien Diskursen“ in Frage gestellt werden können. Man nennt das Berechenbarkeit und Stabilität. Da mag der Einzelne immer denken, dass seine Meinung doch so viel klüger und zielführender ist als die der jeweiligen Führung. Aber wenn es keine Führung mehr gibt, weil jeder seine Meinung hat und jede Meinung gleich viel wiegt wie jede andere Meinung und ein amerikanischer Präsident mit seinen Pöbeleien diesen Niedergang politischer Kultur triumphal als neuen Weg vorgibt, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass politisch rein gar nichts mehr funktioniert.
Jürgen Habermas hat das ganz gewiss nicht gewollt. Aber es muss erlaubt sein, daran zu erinnern, dass seine Theorie auf ideellen Voraussetzungen beruht, die sich in der Realität nicht bestätigen lassen und statt dessen in den Albtraum führen, den wir gerade durchleben. Ihm persönlich muss man das nicht vorwerfen, aber er gehört zu den geistigen Wegbereitern einer Auflösung von Ordnungen, die ihre Legitimität aus dem Affekt gegen Institutionen bezieht.