Dieser Band ist ein unglaubliches Zeitzeugnis. Das ist er nicht durch das, was er erzählt, sondern durch die Art, wie er erzählt. Wieder und wieder blättert man in diesen Bildern und bekommt dabei mehr und mehr das Gefühl, dass die Menschen auf stumme Weise zu sprechen anfangen. Das ist ganz merkwürdig, denn natürlich kann niemand auf stumme Weise sprechen. Aber irgendwie meint man, etwas Unhörbares zu hören.
Melancholischer Hintergrund
Das liegt wohl an den Gesten, die Erich Lessing mit seiner Kamera einfängt und dadurch die Menschen zum Sprechen bringt. Kongenial erfasst er, was sie in ihrem Innersten bewegt. Das sind meistens nüchterne, traurige Gedanken oder Gefühle der Vergeblichkeit. Dabei scheint es gar keine besondere Rolle zu spielen, ob Lessing Szenen in England, Ostberlin, der Türkei oder in Polen einfängt. Die Condition humaine im Nachkriegseuropa unterscheidet kaum nach Regionen. Natürlich gibt es auch mal ein Lachen oder ein fröhliches Gesicht. Aber das sind nur wenige Farbtupfer vor einem melancholischen Hintergrund.
Sie haben viel durchgemacht, die Europäer, und auch in der Gegenwart sind sie nicht auf Rosen gebettet. Das ist die Botschaft dieser Bilder, aber gleichzeitig sind diese Bilder auf merkwürdige Weise schön und anrührend. Wer ist dieser Fotograf, der atmosphärisch derartig dicht zu fotografieren vermochte?
Das Leben von Erich Lessing ist wie ein Hologramm der Höhen und Tiefen Europas, der Schrecken und der langsamen Erholung. Geboren 1923, wuchs er in Wien unter privilegierten Umständen auf. Seine Mutter war Konzertpianistin, sein Vater Zahnarzt. Aber als Juden wurden sie mit dem Beginn der Naziherrschaft verfolgt. Während seine Familie ermordet wurde, gelang es Erich Lessing buchstäblich in letzter Minute dank der Hilfe von Teddy Kollek, dem späteren Bürgermeister von Jerusalem, nach Palästina zu fliehen.
Breites Tätigkeitsspektrum
Dort lernte er Radiotechnik und lebte in einem Kibbuz. Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahr 1946 begann er als Photoreporter bei der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press zu arbeiten. Es entstanden Fotoreportagen für die Zeitschriften Quick, Life, Paris Match, Epoca und andere. Seit 1951 ist Erich Lessing Mitglied der Fotografenagentur Magnum. Seine Dokumentation des Ungarn-Aufstands von 1956 machte ihn weltberühmt. Seit den 1960er Jahren macht Lessing Aufnahmen für kulturhistorische Bildbände zur Odyssee, zur Bibel, aber auch zur Geschichte von Österreich und Frankreich. Erich Lessing wurde für sein Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse der Republik Österreich (2013).
Der vorliegende Bildband ist von Thomas Reche, geboren 1967, zusammengestellt worden. Reche hat sich durch die Herausgabe zahlreicher besonders schön gestalteter Bände mit Péter Nádas, Imre Kertész, John Coetzee, Wole Soyinka und Václav Havel einen Namen gemacht. Er arbeitet auch mit Photographen wie Thomas Höpker, Robert Lebeck, Jörn Vanhöfen und Barbara Klemm zusammen.
Für den vorliegenden Bildband hat Thomas Reche noch einmal bislang unveröffentlichte Bestände, die ihm von der Agentur Magnum zur Verfügung gestellt worden sind, gesichtet. So enthält dieser Band nicht nur zahlreiche bislang noch nicht veröffentlichte Aufnahmen, sondern man spürt auch sehr deutlich die Sorgfalt der Komposition. Die Bilder sprechen nicht nur für sich, sondern gewinnen zusätzlich durch ihre Zusammenstellung an Ausdruck. Dazu trägt auch der erläuternde Text von Thomas Reche am Ende des Bandes bei.
Keine Zeit für Angst
Beim Betrachten der Aufnahmen erstaunt, wie wenig die unmittelbare soziale Situation für die Gefühlslage von Bedeutung ist. Lessing zeigt Menschen in Not und in Gefahr, ohne dass nun jeder deswegen verzweifelt dreinblickt. Nein, auch in diesen Situationen bleiben einzelne Menschen gelassen und entspannt. Das ist etwas, was Lessing am eigenen Leibe erlebt hat. Am Anfang der Bildfolge zur ungarischen Revolution von 1956 heisst es in einem Text von Lessing:
"Wenn Sie arbeiten, haben Sie keine Zeit, Angst zu haben. Da gab es diese skurrile Geschichte: Ich fahre zusammen mit einem Kollegen durch Budapest. Er sitzt neben mir, und ich chauffiere. Plötzlich geraten wir in einen Strassenkampf hinein. Als ich auf eine Hauptstrasse biege, kommt uns ein Panzer entgegen. Voller Schrecken biege ich also in die nächste Seitenstrasse ein, und da ruft dieser Kollege plötzlich aufgeregt: ´Nein, nicht! Das ist eine Einbahn!`"
Umgekehrt zeigt Lessing Menschen in Kaffeehäusern oder auf dem Wiener Opernball, die weder fröhlich noch sympathisch aussehen. Da haben seine Bilder grosse Ähnlichkeit mit den Reportagen von Jakob Tuggener von den Silvesterfesten in St. Moritz in der späten Kriegs- und frühen Nachkriegszeit. Zu dieser Ähnlichkeit gesellt sich aber ein scharfer Kontrast zu einem anderen bedeutenden Schweizer Fotografen: Hans Steiner. In dem Bildband, „Alles wird besser“, drückt er den ganzen Optimismus der Nachkriegszeit aus.
Dieser Optimismus dürfte Erich Lessing gar nicht so fremd gewesen sein. Denn er war nicht nur ein gefragter Reportage-Fotograf und Porträtist, sondern auch ein gefragter Set-Fotograf beim Entstehen populärer Kinofilme. Er beherrschte eben die gesamte Klaviatur der Fotografie.
Erich Lessing: Anderswo. Photographien. Herausgeben und mit einem Nachwort von Thomas Reche, 168 Seiten mit 122 Abbildungen im Duo-Ton, Nimbus. Kunst und Bücher, Zürich 2014