Viele seiner Bilder von der Schweiz wirken wie meisterhafte Schnappschüsse. Da hat einer in Sekundenbruchteilen eine Situation erfasst und dazu noch so fotografiert, dass ein ästhetisch beeindruckendes Bild entstanden ist. Wieder und wieder stösst man in diesem Band auf solche Volltreffer.
Unter der Oberfläche
Die Fotos von der Schweiz sind in einem Zeitraum von etwa fünf Jahren entstanden. In seinem Nachwort schreibt Andreas Herzau, dass er dafür ein spezifisches Konzept hatte. Es beruht auf Gesprächen mit seiner Lebenspartnerin, der Soziologin Renate Ruhne. Sie hat ihm, wie Herzau schreibt, den Blick für das geschärft, was gewissermassen hinter den Dingen liegt oder unter der sichtbaren Oberfläche schlummert.
Diese Messlatte hängt hoch. Den Anspruch, mit der Kamera mehr als blosse Abbilder zu erzeugen, haben alle grossen Fotografen gemeinsam. Herzau bezieht sich auf René Burris Band, „Die Deutschen“, der 1962 erschienen ist. Vorher hatte schon Robert Frank mit „The Americans“ für Wirbel gesorgt, weil er mit seinen Bildern den „American Way of Life“ radikal in Frage stellte. Man denke auch an die sozialkritischen Bilder von Danny Lyon. Diese Linie lässt sich für Amerika bis heute bis zu Nan Goldin und Cindy Sherman weiterziehen.
Ein Fotograf wie Jakob Tuggener hat mit seinen Bildern von der High Society und ihren Partys ebenfalls ein kritisches Bild der Schweiz gezeichnet. Es zeugt von grossem Selbstbewusstsein, wenn sich ein Fotograf explizit in diese Reihe stellt. Aber der Bildband zeigt, dass Andreas Herzau seinen hohen Anspruch einlöst.
Er löst ihn auch deshalb ein, weil er nicht zu sehr auf Fototechnik setzt, sondern auf Flexibilität und Spontaneität. Er benutzte für diesen Bildband nicht die Kameraboliden der Pressefotografen, sondern handliche Kameras, die nicht überscharf jede Pore wie frische Präparate aussehen lassen. Fast alle Bilder leben aber von seinem Spiel mit Schärfe und Unschärfe. Auch darin ist er ein Meister. Seine Bilder sind wie gute Texte, die ohne Umstände und Schnörkel sofort auf den Punkt kommen.
Eine Kuriosität dieses Bandes besteht darin, dass ihm Gedichte von Eugen und Nora Gomringer beigefügt sind. Es handelt sich dabei um sprachliche, zum Teil auch typographische Experimente. Drei sind in Schweizer Mundart verfasst worden, was durchaus seinen Witz hat.
Man hätte gern Bildlegenden. Da sie fehlen, muss man sich seinen eigenen Reim machen. Man muss die Bilder also nicht nur verorten, sondern sich zugleich überlegen, wie sie in Beziehung zum Anspruch Herzaus stehen, uns mehr zu zeigen als die Oberfläche.
Und natürlich möchte man wissen, was dieser Fotograf sonst noch macht. Besucht man seine Website andreasherzau.de, stösst man auf ein umfangreiches Werk engagierter Fotografie. Seine neueste Arbeit, die auf der Website in einem kurzen Film präsentiert ist, entstand im Auftrag des Stern-Magazins im Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen den G 20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli.
Andreas Herzau: Helvetica. Fotografien. Mit Gedichten von Eugen und Nora Gomringer. 70 Fotografien, 104 Seiten, September 2017