Nach den Terroranschlägen von Paris sagte der französische Staatspräsident François Hollande, Frankreich befinde sich "im Krieg". Die Anschläge seien von aussen koordiniert und geplant worden, war dafür die Begründung. Und es gibt, wenn man so will, auch einen kriegführenden Staat, nämlich den „Islamischen Staat“. Der hat zwar kein in sich abgegrenztes Territorium, sondern viele ständig wechselnde Territorien, aber er beansprucht trotzdem, so etwas wie ein Staat zu sein.
Was ist Krieg?
Aber reicht das, um vom "Krieg" zu sprechen? Im konventionellen Sinne ganz sicher nicht, denn wir haben es nicht mit Regierungen zu tun, die sich gegenseitig auf diplomatischem Wege einen Krieg erklären und diesen dann mit ihren Heeren nach der Haager Landkriegsordnung und anderen anerkannten Regeln führen. Stattdessen beobachten wir eine völlige Auflösung der Ordnungen, die wir kannten.
Aber es herrscht Krieg. Niemand würde behaupten, dass wir in einer Zeit des Friedens lebten. Doch der Krieg hat seine Erscheinungsformen radikal verändert. Terrormilizen erobern ganze Landstriche und lassen sich dabei filmen, wie sie ihre Opfer enthaupten. Die Grossmacht Amerika kämpft gegen „Terroristen“, aber sie schickt keine Soldaten, sondern Drohnen. Und überhaupt: Staatlich vereidigte Soldaten werden mehr und mehr durch Angestellte von Gewaltsunternehmen ersetzt. Und der russische Präsident Wladimir Putin befiehlt seinen Soldaten, ohne Hoheitszeichen, als Urlauber getarnt, massiv in die Konflikte in der Ukraine einzugreifen.
Suche nach Erklärungen
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gestaltwandel des modernen Krieges. In seinem neuesten Buch über die „Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert“ fasst er seine bisherigen Überlegungen zusammen und bringt sie auf den neuesten Stand.
Die Schwierigkeit, die dabei zu lösen ist, ergibt sich aus recht einfachen Fragen: Kann man die modernen Formen der massenhaften Gewaltausübung mit der Technik erklären? Hat der Einzelne heute also mehr Mittel zur Verfügung, um Schaden anzurichten? Oder sind die Menschen einfach nur fanatischer geworden, indem sie sich wieder in fundamentalistischem Sinne ihren Religionen zuwenden? Oder hat der Westen durch sein arrogantes Auftreten einen Hass gesät, den wir jetzt in Gestalt von Terrorakten ernten? Ist Putins Annexion der Krim eine Antwort auf die Ausdehnung der Nato bis an die Grenzen des ehemaligen Ostblocks? Und setzt Obama Drohnen ein, weil er auf keinen Fall tote amerikanische Soldaten in Zinksärgen heimfliegen lassen möchte?
Asymmetrie
Eine Theorie des modernen Krieges muss also technische, politische, soziale, geographische und kulturelle Faktoren miteinander verknüpfen. Diese Verknüpfung gelingt Herfried Münkler, indem er mit einigen Leitbegriffen operiert. Sie sind Analyseinstrumente, mit denen er das Geschehen seziert, um es dann zu einem neuen Bild zusammenzusetzen.
Einer dieser zentralen Begriffe ist die Asymmetrie. Asymmetrie besagt, dass sich Gegner gegenüberstehen, deren Gewaltmittel höchst unterschiedlich sind. Auf den ersten Blick ist der eine sehr stark, der andere schwach, aber Asymmetrie bedeutet, dass der starke Gegner seine Überlegenheit nicht wahren kann. Denn der scheinbar schwächere Gegner findet die Stellen, wo der Starke verwundbar ist. So kann er Terrorakte gegen Zivilisten ausüben, er kann die komplexe Infrastruktur angreifen oder den überlegenen Gegner durch gezielte Gräueltaten in Panik versetzen und seine soziale Infrastruktur auf diese Weise destabilisieren.
David gegen Goliath
Der Begriff der Asymmetrie ist auch deswegen interessant, weil an ihm deutlich wird, dass in den herkömmlichen Kriegen bestimmte Symmetrien vorherrschten: Es standen sich gekennzeichnete und abgrenzbare Heere gegenüber, es wurde mit bestimmten Waffengattungen gekämpft und es gab Regeln, zum Beispiel die Trennung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Allerdings gab es schon immer eine Tendenz zur Aufhebung dieser Trennungen; man denke nur an die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerungen im Zweiten Weltkrieg.
Asymmetrie kann als „David-gegen-Goliath-Taktik“ verstanden werden. Die modernen Davids, die de facto mit Vorliebe als Terroristen auftreten und Angst und Schrecken verbreiten, treffen nun auf Gesellschaften, die Herfried Münkler als „postheroisch“ bezeichnet. Damit ist eine längere Entwicklung gemeint, die vom Ideal des tapferen Kriegers zum Pazifisten führt. Nicht der Soldat ist heute das Idealbild unserer Gesellschaft, sondern der friedfertige auf Ausgleich bedachte Bürger.
Postheroische Kriegsführung
Das postheroische Denken und Fühlen schränkt die Handlungsoptionen demokratisch gewählter Politiker ein. Daher müssen sie nach Mitteln und Wegen suchen, Angriffe auf ihre Staaten abzuwehren, ohne von ihren Bürgern zu viel Heroismus zu verlangen. Die scheinbar perfekte Lösung, auf die insbesondere der amerikanische Präsident Barack Obama setzt, sind die Drohnen. Er kann sie so einsetzen, dass sie von der amerikanischen und westlichen Öffentlichkeit nur zu einem kleinen Teil bemerkt werden, und wenn etwas schief geht, dann trifft es unschuldige Opfer in fernen Ländern, aber nicht die eigenen Soldaten.
Der Einsatz der Drohnen hat allerdings eine Grenze, die Herfried Münkler in den Kapiteln beschreibt, in denen er sich mit dem Thema der Propaganda und dem Krieg der Bilder beschäftigt. Denn postheroische Gesellschaften wollen nicht nur eigene Opfer vermeiden, sondern auch die der Gegner. Deswegen dürfen Drohnenangriffe oder auch Luftschläge keine zu grossen Schäden unter der Zivilbevölkerung anrichten. Man will „chirurgische“ Schläge, die sich auf die vermeintlichen „Drahtzieher“ beschränken.
Propaganda
Der Gegner wiederum kann mit Bildern von zivilen Opfern und Zerstörungen von Wohngebieten propagandistische Erfolge feiern. An einer Stelle schreibt Herfried Münkler sarkastisch, dass das Smartphone als Aufnahmegerät das Fehlen einer schlagkräftigen Luftabwehr kompensiert. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass in Zeiten der „postheroischen“ Gesellschaften die Macht der Bilder kaum überschätzt werden kann. Das gilt für beide Arten: für die Bilder von Opfern und für die Bilder von skrupellos inszenierten Gräueln.
Wie erklären Politiker ihren postheroischen Wählern einen Krieg? Am einfachsten geht dies, indem sie ihr militärisches Eingreifen als notwendig zur Durchsetzung von Menschenrechten darstellen. Münkler spricht in diesem Zusammenhang kurz von Polizeieinsätzen. Es handelt sich also nicht mehr um Armeen, die dieses oder jenes Kriegsziel, das im Interesse ihres Landes liegt, erreichen sollen, sondern die Armee wird als eine Art von Weltpolizei zur Durchsetzung der Menschenrechte eingesetzt. Im Einzelfall ist es dann sehr schwer zu entscheiden, ob es sich bei dieser Motivation um einen blossen Vorwand oder um ein wirklich ernsthaftes Anliegen handelt.
Geopolitik
Ein weiteres Kennzeichen moderner Kriege besteht darin, dass niemand sagen kann, ob sie gerade geführt werden, eine Pause machen oder gar ganz aufgehört haben. An diesen Kriegen sind so viele Gruppierungen beteiligt, dass es keine klare Frontlinien mehr gibt und dass man auch nicht mehr von einem „Oberbefehl“ reden kann. Und zumeist sind die „Polizeikräfte“ nicht in der Lage, dem Krieg ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Das könnte nur eine militärisch haushoch überlegene Macht. Aber genau eine solche Macht ist nicht das, was in unserer Zeit und unseren Gesellschaften populär ist. Und so schmoren die „hybriden Kriege“, also Kriege ohne klar definierte Grenzen, Regionen, Kriegsparteien und Gefechtszeiten, vor sich hin.
Das alles sind moderne Entwicklungen und Kategorien, aber Herfried Münkler verweist auch auf einen Gesichtspunkt, der in früheren Zeiten dominierend war, mittlerweile sehr unpopulär wurde und daher gerne vernachlässigt wird: die Geopolitik oder Geostrategie. Besonders im deutschen Sprachraum wird damit ein Denken verbunden, das geographische Räume militärpolitischen Interessen unterwirft. Das möchte man unter allen Umständen vermeiden, aber Münkler zeigt, wie gerade dadurch der heutige fatale politische und militärische Konflikt mit Russland entstanden ist.
Das Ganze und seine Teile
Denn hätten die Politiker nach der Wende von 1989 Verständnis für geopolitische Gesichtspunkte gehabt, hätten sie die Empfindlichkeiten der Vertreter des ehemaligen Warschauer Paktes berücksichtigen können. Geographische Räume haben immer auch militärische Dimensionen, und daher ist es wichtig, dass zum Beispiel die Europäer mehr Sinn für die geostrategischen Überlegungen Amerikas im Hinblick auf den asiatischen Raum entwickeln. Denn sonst werden sie von den künftigen Verwerfungen, die Herfried Münkler für wahrscheinlich hält, überrascht werden.
Mit seinen Analysen erweist sich Herfried Münkler einmal mehr als führender deutscher Politikwissenschaftler. Er spannt den grossen Bogen, ohne den Blick auf das Detail zu vernachlässigen. Wer die heutigen regionalen und weltpolitischen Gewaltkonflikte verstehen will, wird ohne dieses Buch nicht auskommen.
Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, 395 Seiten, Rowohlt, Berlin 2015