Die ersten drei Bilder hat Stefan Moses von sich und seiner Katze Mau Mau im Spiegel aufgenommen. Man sieht ihn mit seiner Kamera im Moment des Auslösens. Über seine Schultern und seinen Nacken huscht Katze Mau Mau. Das Ganze spielt sich offensichtlich im Badezimmer von Stefan Moses ab. Die drei Bilder sind von verblüffender Direktheit und wirken im ersten Moment so, als ob Stefan Moses auf jeden Gestaltungswillen gepfiffen hätte.
Trotzdem muten diese Bilder nicht trivial an. Irgendetwas meldet sich in ihnen, das den Betrachter festhält. Worum handelt es sich? Alexander Kluge hat dazu eine Anekdote aus der sowjetischen Raumfahrt erzählt, als man nämlich versuchte, Katzen für Weltraumexperimente abzurichten. Das ging fürchterlich schief, weil diese Tiere viel zu intelligent und freiheitsliebend sind, um sich derart vereinnahmen zu lassen. Allerdings fordern sie "täglich ihre Ladung an Zärtlichkeiten". - Nun schaut man sich die Katzenbilder noch einmal genauer an. Und man erkennt eine unglaublich schöne Symmetrie im Hintergrund, die mit dem Vordergrund eine verblüffende Harmonie erzeugt. Ist das Katzenweisheit?
"Ein Irrläufer, ein Flitz"
Der Bildband trägt den Titel: „Le Moment fugitif“. Das ist eine Spitze gegen das vielzitierte Wort von Henri Cartier-Bresson vom „Moment décicif“. Als gäbe es etwas Metaphysisches, das in dem „entscheidenden Augenblick“ entsprechend den Intentionen des Fotografen zum Ausdruck käme. Dagegen heisst es in einem Zitat aus der den Band abschliessenden "Notiz" von Alexander Kluge auf der Frontseite des ungewöhnlich schön gestalteten Buches:
„Ebenso gut kann man sagen: Ein Dämon namens Kairos, ein Zufall, eine Verlegenheit, ein plötzlicher Irrläufer, ein Flitz löste das Foto, den kristallisierten Moment oder den Text aus. Auf seiner Flucht wurde der Augenblick gerade noch erwischt.“
Wie aber erwischt Stefan Moses diese Augenblicke auf ihrer Flucht? Da gibt es natürlich den Schnappschuss. Und es gibt fotografische Situationen wie den Besuch bei einem Politiker. Ein schönes Beispiel dafür sind Aufnahmen im Haus von Gerhard Schröder von 1987 mit, wie Moses akribisch notiert, „Tochter Franka und Neufundländer Golo“. Darüber hinaus aber inszeniert Stefan Moses, er kreiert Arrangements, von denen es drei Typen gibt:
Er geht mit seinen zu Porträtierenden in einen Wald, er setzt sie vor einen Spiegel und lässt sie sich mittels eines langen Drahtauslösers selbst fotografieren oder er spannt ein Tuch auf, vor das sich einzelne Personen oder kleine Gruppen stellen. Diese Bilder mit dem Tuch waren schon in seinem Band: "Deutsche. Portraits der Sechziger Jahre" (1980), zu sehen und sie sind typisch für seine Aufnahmen, die er nach der Wiedervereinigung von Ostdeutschen gemacht hat.
Zu den einzelnen Personen, Situationen oder auch weiteren Kontexten liefern der unerschöpfliche Wissensfundus Alexander Kluges, seine Fantasie und seine unnachahmliche Gabe, mit immer wieder neuen Geschichten das scheinbar Bekannte in ungewöhnliches Licht zu tauchen, einen literarischen Hintergrund, vor dem die Bilder noch einmal eine neue Bedeutung erhalten.
Manchmal sind es regelrechte Schrullen, die Kluge erzählt, dann wieder berichtet er wie beiläufig von zeitgeschichtlichen Hintergründen oder er legt vielsagende Tagebuchaufzeichnungen von Zeitzeugen wie Ernst Jünger, den Moses natürlich auch porträtiert hat, vor. Und manchmal ist er bissig, etwa in den Texten, die im Zusammenhang mit den Doppelportäts von Hans Modrow und Gregor Gysi stehen.
Wie kann der „flüchtige Augenblick“ auf arrangierten Fotos überhaupt zu Geltung kommen? Das sieht nach einem Widerspruch in sich aus. Stefan Moses aber schafft es, die Menschen in diesen Situationen derartig aus sich herauszulocken, dass die Bilder atemberaubend spontan wirken. Aber auch, wo Moses nicht inszeniert, gelingen ihm eindrückliche Portätstudien. So hat er 1961 Ludwig Ehrhard und Konrad Adenauer nebeneinander sitzend fotografiert. Auf einem dieser Bilder umspielt ein feines Lächeln das Gesicht des ansonsten unnahbaren „Alten“, und er hat den Kopf ganz leicht in die Richtung Ludwig Erhards geneigt – dieser neigt sich ihm auch zu. Dieses Bild ist ganz besonders anrührend, denn man weiss ja, wie wenig Adenauer von Erhard hielt.
Zu diesen Porträts hat Kluge einen seiner schönsten Texte formuliert: „Pokergesicht aus alter Zeit“. Er schildert darin, wie Adenauer es im Jahr 1955 in Moskau geschafft hat, die Rückkehr der letzten fast 10.000 deutschen Kriegsgefangenen zu erwirken. Adenauers Gesicht war, so Kluge, für seine Gesprächspartner nicht zu entziffern, und so lenkten sie schliesslich ein: „Bulganin ergreift über den Tisch hinweg seinen Arm, schüttelt ihm die Hand, kein schriftliches Zugeständnis, keine formulierte Garantie, statt dessen ein Ehrenwort unter Regierungschefs.“
Wie haben Kluge und Moses zusammengefunden? In seiner „Notiz“ am Ende des Buches bemerkt Kluge lapidar, dass beide Nachbarn seien. Und die Ausstellung im Museum Küppersmühle in Duisburg sei ein Anlass für einen Besuch bei Moses gewesen. Aber die Verbindung reicht viel tiefer. In dem Band gibt es drei Bilder von Theodor W. Adorno. Sie stammen aus der Serie „Selbst im Spiegel“ von 1963. Auf dem ersten Bild sieht man im Hintergrund den jungen Alexander Kluge, damals noch adrett mit Krawatte.
Auch bei diesem Bild vergisst Stefan Moses nicht, das Flüchtige und Beiläufige zu erwähnen. In der Bildlegende heisst es: „Der Spiegel, vor dem Adorno sitzt, wurde ausgeliehen von C & A“.
Le Moment fugitif. Fotografien von Stefan Moses und Geschichten von Alexander Kluge, Nimbus. Kunst und Bücher 2014