Hans Peter Duerr hat sich mit zahlreichen umfangreichen Werken grosses Renommee erworben. Immer wieder riskierte er dabei Grenzüberschreitungen, indem er sich in fremdartige Denkweisen hineinversetzte. Zudem betrachtet er aus seinem ethnologischen Blickwinkel heraus auch die westliche Kultur und unterzieht sie seiner Kritik. So sorgte die Untersuchung „Obszönität und Gewalt“ von 1993 für heftige Kontroversen.
Schrillende Alarmglocken
Das jetzt vorliegende Buch beginnt mit einem persönlichen Nahtod-Erlebnis von 1982. Während einer Zugfahrt nach Salzburg gewann er den Eindruck, seinen Körper zu verlassen und nach dem Durchgang durch einen Tunnel eine Landschaft in Oklahoma wahrzunehmen, wo er sich zehn Monate zuvor aufgehalten hatte. Duerr ist also von seinem Gegenstand selbst betroffen. Da schrillen die Alarmglocken. Denn der Leser muss fürchten, dass der Autor von seinem Gegenstand allzu sehr eingenommen ist und daher rationalen wissenschaftlichen Kriterien nicht gerecht wird.
Hans Peter Duerr entgeht dieser Falle, indem er seinem Buch eine sehr klare und nachvollziehbare Struktur zu Grunde legt. Als Ethnologe mit einem uferlos erscheinenden Wissen schildert er aus den unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen Nahtod-Erfahrungen und Berichte von Jenseits-Reisen. Dann untersucht er diese Berichte im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. So widerlegt er unter anderem die Behauptung, dass so genannte Jenseitsreisende immer nur Verstorbenen begegnen würden, nie aber Lebenden. Er bezieht sich dabei auf einen Befragung von 350 Personen, von denen immerhin 14 Prozent Lebenden begegnet sein wollen.
Glaubwürdigkeit
Über diese aufschlussreichen und gut nachvollziehbaren Vergleiche hinaus fragt Duerr, ob die Berichte von den ausserkörperlichen Erfahrungen mit unserer Logik verstanden werden können und mit unserem Weltbild in Einklang zu bringen sind.
Das ist ja die Frage, die den Leser am meisten interessiert: Sind die Erfahrungen, die in Tausenden von Berichten niedergelegt sind, die Schamanen und so genannte Primitive ebenso gemacht haben wie Psychiater und Neurochirurgen für uns irgendwie nachvollziehbar und glaubwürdig? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Hans Peter Duerr auch die einschlägige medizinische, neurobiologische und psychologische Fachliteratur.
Leib und Seele
Wenn jemand behauptet, seine Seele sei aus seinem Körper ausgetreten und habe ausserhalb des Körpers ganz bestimmte Dinge gesehen und erfahren, um dann wieder in den Körper zurückzukehren, dann betrachtet er seinen Geist als etwas Immaterielles, das unabhängig vom Körper existieren kann. Hierin liegt wohl die grösste Herausforderung bei der Deutung der Jenseitserfahrungen. Denn für unser Weltbild gilt der Grundsatz, dass der Geist, also alle Arten von Bewusstseinsvorgängen, an das physisch vorhandene und mehr oder weniger funktionsfähige Gehirn gebunden sind.
Entsprechend versucht man, die so genannten Jenseitserlebnisse auf zeitweilige Ereignisse im Gehirn zurückzuführen. Das können Sauerstoffmangel sein oder ganz im Gegenteil Hyperventilation, Schocks, extreme Erregung oder Tiefenentspannung durch Meditation – Hans Peter Duerr geht alle diese Erklärungen durch und zeigt, dass sie tatsächlich extreme Wahrnehmungen auslösen können. Aber diese sind für ihn nicht mit den eigentlichen Nahtod-Erlebnissen identisch.
Unlösbare Paradoxien
Wie kann er da so sicher sein? Die Antwort liegt in seiner Methode. Er untersucht die Berichte sehr genau und vergleicht sie mit anderen Berichten. Dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass Menschen, die Erfahrungen mit Drogentrips haben – er selber gehört dazu – einen scharfen Unterschied zu dem machen, was sie als Nahtod-Erlebnis bezeichnen. Hier liegt subjektiv eine klare Unterscheidung vor. Aber das heisst nicht, dass wir deswegen schon wüssten, wie spezifische Nahtod-Erlebnisse wissenschaftlich zu deuten sind.
Dieses Problem ist gar nicht so speziell, um nicht zu sagen: abstrus, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn auf der Basis der ganz normalen Philosophie und Wissenschaft gerät man in grosse Probleme, wenn das Verhältnis zwischen Geist, Gehirn und Körper genau definiert werden soll. Immer wieder geht Hans Peter Duerr auf die Philosophen Ludwig Wittgenstein, Karl Raimund Popper und auf Neurobiologen wie Detlef Bernhard Linke und Gerhard Roth ein, um nur diese zu nennen. Auch bei ihnen gibt es Paradoxien, die bis heute noch nicht aufgelöst werden konnten.
Der Fötus sieht nichts
Aber ganz unabhängig von diesen wissenschaftstheoretischen Problemen gibt es etwas, was an den Berichten von Jenseitsreisenden beeindruckt. Es handelt sich zum Beispiel darum, dass über lange Zeiträume und über verschiedene Kulturen hinweg ähnliche Dinge geschildert werden. Am berühmtesten ist der Tunnel, durch den die Seele hindurch geht, um am Ende des Tunnels ins Licht zu treten. In dem Buch von Duerr findet sich dazu das sehr bekannte Bild von Hieronymus Bosch, „Der Aufstieg zum Himmlischen Paradies“, das um 1499 entstanden ist.
Wie lässt sich diese Konstanz deuten? Auch hier untersucht Hans Peter Duerr unterschiedliche Hypothesen. So wird immer wieder behauptet, dass es sich hier quasi um ein umgekehrtes Geburtserlebnis handele. Duerr bemerkt dazu trocken: „Kein Fötus blickt während der Geburt nach vorn in Richtung des Körperausgangs der Mutter, weshalb er auch keine Lichtquelle am Ende eines Tunnels sieht. Vielmehr hat er zum Schutz der Hornhaut vor dem Fruchtwasser die Augen geschlossen.... Aber selbst wenn ein Fötus in der Lage wäre, eine Geburt wie die Passage eines Tunnels zu erleben, könnte er sich an das Erlebnis später nicht mehr erinnern, da es keine Erinnerungen an Geschehnisse gibt, die einem vor dem Alter von zwei Jahren widerfahren sind.“
Das namenlose Grauen
Zum Repertoire der beliebten Jenseitserlebnisse gehören die Berichte von ungeheuren Glücksgefühlen, die damit verbunden sein sollen. Die Untersuchungen von Hans Peter Duer erweisen aber, dass es viele Menschen gibt, die bei Befragungen das genaue Gegenteil berichten. Ihnen ist im Jenseits namenloses Grauen entgegengeschlagen und sie erinnern sich daran nur voller Schrecken. Deswegen kann für sie auch keine Rede davon sein, dass sie aufgrund dieses Erlebnisses keine Furcht mehr vor dem Tode hätten, wie das ja so gerne in Verbindung mit Jenseitserlebnissen behauptet wird.
In diesem Teil des Buches bezieht sich Hans Peter Duerr auf den mittelalterlichen Theologen Johannes vom Kreuz. Dieser damals weit bekannte Mystiker hat die Erfahrung gemacht, ohne jeden göttlichen Halt zu sein und damit in tiefster Verzweiflung zu versinken. Dieses Erlebnis muss von unfassbaren Grauen sein, und es ist nicht ohne Pointe, dass Hans Peter Duerr seinem Buch den Titel jener Formulierung gab, die Johannes vom Kreuz für diese Erfahrung gefunden hat: Die dunkle Nacht der Seele.
Hans Peter Duerr, Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, 688 Seiten, Insel Verlag Berlin 2015