Die Fotografie ist gut kartiert. Aber es gibt noch weisse Flecken. Das ist erstaunlich, zumal wenn auf einem dieser weissen Flecken ein Fotograf höchsten Ranges erscheint. Wie konnte er nur so lange übersehen werden? Da mag man spekulieren. Viel wichtiger ist das unverhoffte Glück der Begegnung mit den Bildern von Pietro Donzelli.
Eine eigene Poetik
Schon beim ersten Durchblättern des Bandes, der im Nimbus Verlag erschienen ist und Zusammenhang mit einer Retrospektive Pietro Donzellis in den Opelvillen Rüsselsheim steht, ist man verblüfft und eigentümlich berührt. Man sieht Bilder von grosser kompositorischer Kraft und wird sofort an die grössten Fotografen der europäischen und amerikanischen Tradition erinnert. Dennoch ist etwas ganz Eigenes in den Bildern, das nicht nur mit den Motiven zum Beispiel aus Mailand, Neapel, Kalabrien, Sizilien und der Landschaft aus dem Delta des Po zusammenhängt.
In diesen Bildern steckt eine ungeheure Ernsthaftigkeit. Da geht einer durch die Welt, schaut sich die Dinge ganz genau an, lässt sich Zeit und macht dann Bilder, die, wie es in einem der begleitenden Essays heisst, „eine eigene Poetik“ haben. Diese Poetik ist still und aufmerksam, geprägt von einem klaren Formwillen, so dass auch das scheinbar Zufällige alles andere als zufällig, sondern vom Blick des Fotografen wohl geordnet ist.
Pietro Donzelli fotografiert Landschaften, Strassen und Szenen, wobei die Menschen mit der Umgebung wieder eine eigentümliche Harmonie bilden. Hinter allen Bildern steht ein Gedanke, und dieser Gedanke ist nicht banal. Aber er lässt sich nicht einfach in Worte fassen, sondern er ist an das Bild gebunden: Bildsprache.
Fotografieren mit dem Kopf
Wer ist dieser Pietro Donzelli, dessen Geburtstag sich am 15. April zum hundertsten Mal jährt? In dem Bildband steht ein Lebensbericht, den er selbst verfasst hat. Darin schildert er zunächst seine Kindheit in Monte Carlo und später in Mailand. Diese Kindheit war nicht ganz einfach, denn in Mailand musste er erst Italienisch lernen und er kam in ein Internat. Ursprünglich hatten seine Eltern in Monte Carlo ein Delikatessengeschäft, und während des 1. Weltkriegs war dieser Ort eine „Insel der Seligen“. Nach dem Krieg orientierte sich der Vater neu und machte eine kleine Holz- und Kohlehandlung auf. Trotz dieser Widrigkeiten aber war Pietro Donzelli kein unglückliches Kind, und berührend sind die Worte, mit denen er die Schönheit seiner Mutter preist.
Nach der Mittelschule fing er im Planarchiv der italienischen Telegrafengesellschaft SIRTI an. Dann brach der Krieg los, und Donzelli wurde Soldat. Er schildert anschaulich und einprägsam die Strapazen und die Schrecken des Krieges. Mit dabei war schon seine Kamera, aber er hatte keine Filme. Und so fotografierte er in seinem Kopf. Das war keine Marotte, sondern eine ernsthafte Vorbereitung für das, was nach dem 2. Weltkrieg für ihn beginnen sollte.
Es war eine Zeit des Aufbruchs, gesellschaftlich und kulturell. Die Lebensumstände waren so einfach und misslich, dass man sie sich kaum vorstellen kann. Nicht ohne eine Prise Humor schildert Pietro Donzelli, wie er sich mit einfachsten Lampen und anderen Utensilien behalf, um seine ersten Bilder zu machen und zu entwickeln.
Grenzenlose Energie
Und er stürzte sich auf die bildende Kunst und die Literatur, auf die klassische und zeitgenössische Musik. Auch der Film interessiert ihn. So war ständig im ersten Filmstudio Italiens, dem ICET in Mailand, zu Gast, wo man ihn gerne als Kameramann gehabt hätte. Und leidenschaftlich sammelte er alles, was ihm aus der europäischen einschliesslich der sowjetischen und natürlich auch der amerikanischen Fotografie zugänglich war. Pietro Donzelli muss von einer schier grenzenlosen Energie angetrieben worden sein.
Die Telefongesellschaft SIRT, bei der er angefangen hatte und insgesamt 58 Jahre gearbeitet hat, erkannte seine ungewöhnlichen Fähigkeiten und betraute ihn zunehmend mit anspruchsvollen Fotoprojekten bis hin zu Reportagen im Ausland, zum Beispiel in Marokko. Daneben gab es zahlreiche andere erstrangige Aufträge.
Breiten Raum nimmt seine Schilderung der Auseinandersetzungen um den Weg der Fotografie im Italien der Nachkriegszeit ein. Es gab Vereine, Fraktionen, Auseinandersetzungen. Sein Beharren auf hoher formaler Qualität, auf das Durchdenken der Konzepte und Bilder, auf Authentizität und Sorgfalt gegenüber Tempo und Imitation stiess nicht nur auf Gegenliebe. Er wandte sich gegen die Überschätzung der Fototechnik mit den immer raffinierteren und komfortableren Apparaten. Zeitweilig galt er im „Circulo fotografico milanese“ (CFM) als „schwarzes Schaf“ und wurde erst gegen sein Lebensende nach hochrangigen Auszeichnungen für sein fotografisches Werk wieder aufgenommen.
1997 gab es im Kunstmuseum Wolfsburg und in der Frankfurter Schirn eine Retrospektive. Danach passierte lange Zeit bis zur derzeit laufenden Ausstellung in den Opelvillen in Rüsselsheim und dem Erscheinen des Bandes im Nimbus Verlag zumindest in Deutschland nichts. Der Vorteil ist immens. Denn auf diese Weise tritt ein Klassiker der Fotografie auf den Plan, dessen Bilder ganz gewiss zum Kanon der europäischen Fotografie gehören – aber man hat sie noch nicht gesehen.
Pietro Donzelli, Luce, 230 Seiten, 117 Illustrationen, Nimbus Verlag Kunst und Bücher, 2015