Der Turm war 2017 temporär für drei Jahre bewilligt worden. Origen hat vor dem Shutdown um weitere drei Jahre Verlängerung nachgesucht. Soeben hat dies die Gemeinde Surses bis Sommer 2023 bewilligt. Der kommunale Stempel setzt den Schlusspunkt unter ein vielmonatiges Verfahren bei zahlreichen kantonalen Ämtern. Wie zu hören ist, war man sich unkompliziert über Bedingungen einig, die Origen erfüllen musste, darunter jene auffälligste, wonach der schlanke Goldfinger unterhalb der Passhöhe noch diesen Herbst zu demontieren ist. Der Goldfinger war 2016 der Test dafür, wie stark ein tragender Ecktreppenturm für den Gesamtbau sein musste. In seiner Eleganz durfte er auf Zusehen hin stehen bleiben und diente ein paar Jahre lang Ausstellungszwecken. Die dann real gebauten Treppentürme sind massiver und leichter begehbar.
Kultur als Wirtschaftsfaktor
Nach dem allmählichen Ausbau des Bergdorfs Riom bei Savognin zum Kultur- und Theaterdorf wurde die wirtschaftliche Bedeutung Origens für das Oberhalbstein (Surses) immer klarer. Der Turmbau war ein neuer Höhepunkt, sicherte regionale Arbeitsplätze. Der Konzert-, Tanz- und Theaterbetrieb Origen insgesamt ist seit langem Leistungsträger im Tourismus Graubündens. Initiant und Kopf des ganzen Festivals ist Intendant Giovanni Netzer. Er war auch selbst Architekt auf der Passhöhe. Technischer Erbauer war der Bonaduzer Bauingenieur Walter Bieler, der alles berechnet hat; Bieler selbst spricht respektvoll von einem „sozialen Verhalten des Tragwerks durch die Verbindung der zehn fünfeckigen Einzeltürme aus leichten Holzelementen zum einen starken“.
Der dreissig Meter hohe falunrote Bau mit gut 200 Sitzplätzen wird sommers wie winters bespielt. Er muss Orkanen von bis zu 250 Stundenkilometern Heftigkeit widerstehen, Schnee- und Staublawinen aushalten, dicht sein für Regengüsse. Ein Orkan einer Windstärke 250 km/h weht nach heutigen Erkenntnissen alle fünfzig Jahre – also könnte er jeden Winter losheulen. Voriges Jahr wurden 190 km/h gemessen, ein Wert weit über dem höchsten klassifizierten der Beaufortskala. Kein Wunder, dass nach einigen weiteren Jahren der massive Holzbau stark renovationsbedürftig würde.
Rückbau 2023 – neuer Campus
Giovanni Netzer erklärt im Gespräch, dass die wesentlichen Elemente des Turms nach 2023 weiter verwendet werden sollen, wo auch immer, da Origen nicht einfach auf das kulturelle Raumangebot der kreisrunden Arena im Turm verzichten könne. So hat er denn bereits in aller Stille die Idee eines Kultur-Campus vorbereitet. Am Dorfrand von Riom soll dieser entstehen, schöpferische Potentiale fördern und kulturelles Engagement neu definieren.
Die jüngste Medienmitteilung Origens sagt dazu: „Ein grosser Garten mit lichtdurchfluteten, leichten Bauten schafft Raum für kulturelle Projekte, die Bühnenspiel, Ausstellungswesen, Forschung, Baukultur, Dorfentwicklung und Bildung umfassen. Ziel ist die Vernetzung von Kunst und Wissenschaft, Handwerk und Technologie, Natur und Kultur. Herzstück des Campus ist ein neuer Theatersaal, der sich zur weiten Landschaft hin öffnet und ab 2023 den Julierturm ersetzen soll. Der Campus schafft zwei Dutzend neue Arbeitsplätze, kostet rund 15 Millionen Franken und soll bis 2028 vollendet sein. Die Baurechtsgesuche für die notwendigen Parzellen wurden bei der Gemeinde Surses eingereicht.“
Kreative Überwindung Coronas
Mitten in der Winterspielzeit hatte das Festival den Julierturm wegen Corona schliessen und Performances wie jene ausverkauften letzten des grandiosen «Parzival» von Giovanni Netzer absagen müssen.
Mit der weiteren Absage mehrerer ebenfalls ausverkauften Aufführungen des Deutschen Requiems von Brahms unter Clau Scherrer auf der Passhöhe fiel die zweite Hälfte der Winteranlässe Origens komplett aus. Umso erfreulicher war die Nachricht im Mai, Origen werde eine Sommerspielzeit stemmen, das kleine kreative Team in Riom arbeite an Varianten mit Schutzkonzepten.
Das Herz des Kulturfestivals ist seit 2007 die mittelalterliche Burg Riom. Auf der Holztribüne liess sich das Publikum in Coronazeiten im Schachbrettmuster auf Abstand setzen, wodurch freilich erneut Einnahmen ausfielen. Das mittelalterliche Schloss hatte Netzer nach einem demokratischen Prozess im Baurecht übernommen. Sein Kulturfestival ist seither eine im Tal verankerte Institution. Die elegante zum Kleintheater ausgebaute Scheune (Clavadeira) durfte diesen Sommer coronabedingt nicht bespielt werden. Kurzerhand wurde zusätzlich die grosse luftige Lorenz-Scheune innen hell gestrichen und mit einer Zugangstreppe versehen; zuvor hatte sie als Lagerraum gedient. Als ob der schlichte Raum schon immer ein Kulturzentrum gewesen wäre, fanden darin die traditionsreichen rätoromanischen Heimwehlieder, ein herrlicher Britten, romantische Männerchorwerke gute Akustik. In dieser zweiten Origenscheune war letzten Sommer die lichtvoll hängende, bezaubernd im Windhauch spielende Installation der Künstlerin Irene Gazzillo ausgestellt.
Tanzbegeisterung auf Burg Riom
Statt im Julierturm blühte moderne Tanztradition in der Burg. Zürich kam Anfang Juli erstmals ins Bergdorf; Hamburg, Wien, München folgten mit Kleintruppen, die zumeist schon früher bei Origen gastiert haben. Alle arbeiteten sie mitten im Shutdown an ihren Uraufführungen für Graubünden, ohne Gewissheit, reisen und aufführen zu dürfen. Für das Marinsky in Petersburg blieb die Ungewissheit; statt zum vierten Mal in den Alpen zu tanzen, muss die Gruppe zu Hause bleiben. Für die Russen sprang der freischaffende Choreograf Juliano Nunes ein, der sein Engagement bis zum Ende der Spielzeit Mitte August verlängerte.
Der junge Brasilianer hatte mit seiner fünfköpfigen Gruppe von drei Tänzerinnen und zwei Tänzern in der Turnhalle des Nachbardorfs seine Produktion „Cor“ (Herz) erarbeitet, ausgebaut, zu berührenden Szenen verfeinert. Juliano Nunes sagte im Gespräche, wie wichtig nach dem Amsterdamer Lockdown für seine Ad-hoc-Truppe „die Weite hier oben ist; sie hat uns beflügelt; diese Freiheit tut uns sehr gut“, unterstreicht er mit ausholender Geste zu den Berggipfeln hin. „Wir möchten Liebe, Sehnsucht aus vollem Herzen tanzen und schenken.“ Das ist „Cor“ in traumhafter, sicherer Mischung von klassischem Tanz und moderner Körpersprache gelungen, in der mehrmals ausverkauften Burg, vor zunehmend freiwillig maskiertem Publikum.
Ähnlich gekonnt der junge Shooting Star Kristian Lever und der bewährte Dustin Klein mit ihren Truppen.
Kleins Frau, der Kostümbildnerin Louise Flanagan, gelang es im Münchner Shutdown, für das Tollhaus seiner getanzten und gesprochenen Fernsehschau-Choreografie exzellente Kostüme zu kreieren. Lever ist nicht nur ein origineller Choreograph, sondern auch ein begabter Stückeschreiber. Die Verflechtung von Wort und Tanz ist allen drei genannten Künstlern auf neuartige Weise gelungen.