Gelangweilte Paare, eingeölte Badegäste, kamerabehängte Touristen. Grelle Süssigkeiten, blumige Porzellantassen, fettige Frühstückswürste. Kurioser Schnickschnack, vermüllte Strände, überquellende Supermärkte: Das soll der Stoff sein, aus dem Magnum-Fotografien sind? Sehen so Bilder aus, die seit bald siebzig Jahren Inbegriff des engagierten Fotojournalismus sind? Für ein Genre, geadelt von Namen wie Bob Capa, Marc Riboud oder René Burri?
Kein Wunder, gab es Widerstand der Etablierten, als der Brite Martin Parr 1994 Vollmitglied der prestigeträchtigen Fotografenkooperative werden sollte. Was dem heute 64-Jährigen trotzdem gelang – er wurde knapp ins erlauchte Gremium gewählt. Heute, 22 Jahre später, möchte Magnum den im besten Sinn exzentrischen Kollegen nicht mehr missen, der seit 2014 die Agentur auch präsidiert. Henri Cartier-Bresson, einer der vier Gründer von Magnum, hat Parr einst per Telex wissen lassen, er komme von einem anderen Planeten. „Mein Planet heisst Parr World“, sagt der Fotograf.
Sammler und Jäger
Martin Parr ist ein Getriebener, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Sammler und Jäger von Firlefanz, der sich in seinem Haus in Bristol in einer Art türmt, die jeder Messie liebt. Wobei die mehr als 12‘000 Fotobücher, die er hortet und über deren Geschichte er für den Verlag Phaidon drei faszinierende Bände herausgegeben hat, natürlich nicht Nippes sind.
Im Gegenteil! Fotobücher, lange Zeit unterschätzt, sind ein kultureller Schatz erster Güte. Parr sammelt unter anderen auch Saddam Hussein-Uhren, Fototapeten oder Souvenirs, die den „space dogs“, den Hunden im All, gewidmet sind. „Das Sammeln steckt in meinen Genen“, räumt er ein: „Ich will damit nicht aufhören.“
Magnum habe nichts Besseres passieren können als Martin Parr, sagt Donovan Wylie, der 1992 als 21-Jähriger assoziiertes Mitglied der Fotografenkooperative wurde. Parr habe, sagt der Nordire, Magnum vorangebracht und junge Fotografen wie ihn dazu inspiriert, Neues zu versuchen, statt sich auf Altbewährtes zu verlassen: „Der Fotojournalismus im klassischen Sinne ist tot.“
Ein neuer Ansatz
Auch Magnum-Kollege David Hurn sieht Martin Parrs unorthodoxe Fotografie als Gewinn für die Kooperative: „Er ist jener Fotograf, an den sich die Leute in fünfzig Jahren erinnern werden, wenn sie sich fragen, wer die Vulgarität unserer Zeit am besten eingefangen hat.“ Ihn selbst dagegen, verrät der 83-jährige Hurn, ziehe die Kamera, wie ein Magnet, noch immer zu klassischen Sujets hin.
„Es gibt einen alten Ansatz, den Versuch, die Welt zu verändern“, sagt Martin Parr: „Doch niemandem wird es gelingen, Kriege, Hungersnöte, Seuchen und all die andern Erscheinungen auszurotten, jene Sujets, die engagiertere Fotojournalisten anziehen würden.“ Zwar gebe es bei Magnum nach wie vor Mitglieder, die wie früher einen humanistischen Ansatz pflegten, aber sie würden das heute mit einem neuen Dreh tun: „Sie machen packende Bilder, welche die Leute zeigen wollen. Ich selbst fotografiere interessante Sujets, verkleide sie aber als Unterhaltung.“
Er sehe sich nicht als klassischen Fotojournalisten, gibt der 64-Jährige zu: “Ich bin Dokumentarfotograf. Ich will versuchen, den Zeitgeist einzufangen, der das aktuelle Geschehen inspiriert. Das verändert und verschiebt sich ständig. Es interessiert mich nicht, Dinge zu fotografieren, die verschwinden, obwohl ich von Nostalgie nicht ganz frei bin. Mich interessieren die Dinge, wie sie heute sind.“
Anfänge in Schwarzweiss
Mit Nostalgie meint Martin Parr wohl seine Zeit in Hebden Bridge (Yorkshire), wohin er 1975 mit Absolventen des Polytechnikums in Manchester zog und an der Albert Street einen Workshop für kreatives Schaffen eröffnete. Fünf Jahre lang dokumentierte er in der Kleinstadt und deren Umgebung den überlieferten ländlichen Alltag, zum Beispiel kleine, vom Untergang bedrohte Methodisten- und Baptisten-Kirchen, letzte Refugien einer älteren Bevölkerung.
Aus der Kleinstadt Epsom in Surrey stammend, hatte Parr als Junge in den Schulferien bei seinem Grossvater fotografieren gelernt, der ein eingefleischter Vogelbeobachter und Amateurfotograf war. Auch als „trainspotter“, als Zugbeobachter, war Martin unterwegs – eine Tätigkeit, die wie „birdwatching“ ausser einer Portion Exzentrik Geduld und Ausdauer verlangt. Er sei aber, sagt Martin Parr über sich selbst, „rastlos, aufgedreht und besessen“ – eine Einschätzung, der seine Frau zustimmt. Doch gleichzeitig mache er niemandem was vor, sei offen und ehrlich.
Die ruhigen Schwarzweiss-Aufnahmen aus Hebden Bridge, 1984 im Buch „Calderdale Photographs“ gesammelt, stehen in starkem Kontrast zu Parrs heutiger Optik, der nichts Buntes, Grelles oder Glänzendes fremd ist. Der Band mit den Bildern aus West Yorkshire war Parrs zweites Werk. Sein erstes, ebenfalls in Schwarzweiss, war zwei Jahre zuvor erschienen und – mit einer wasserdichten Kamera aufgenommen – dem britischen Wetter gewidmet: „Bad Weather“.
Der Wechsel zu Farbe
Das Buch über Britanniens nationale Obsession zeigt, wie spätere Arbeiten auch, Martin Parrs ausgeprägten Sinn für Humor, Ironie und Realsatire. Wobei es dem Fotografen nicht darum geht, jemanden blosszustellen. Parr fotografiert einfach, was ist – ohne zu arrangieren oder zu inszenieren: „Ich versuche, das Alltägliche interessanter, das Gewöhnliche besonders erscheinen zu lassen.“ Als Satiriker sieht er sich nicht, obwohl er sich der entsprechenden nationalen Tradition bewusst ist: „Leute sind lustig, keine Frage. Fotografie, die nicht auch etwas Schalk beinhaltet, wird zu PR und Propaganda.“
Martin Parrs Selbstironie zeigt sich schön in seinen „Autoportraits“, einer Reihe kitschiger, erbarmungslos retuschierter Selbstportraits, für die er sich, Prä-Selfie, weltweit in Fotostudios vor allen möglichen Kulissen und in allen unmöglichen Aufmachungen hat ablichten lassen – je nach lokaler Nachfrage: als Astronaut, als Bodybuilder, als Karatekämpfer, im Hawaiihemd, im Smoking, mit Tigermaskottchen. Die Serie von Selbstportraits, schreibt Val Williams, Autorin einer Parr-Monografie, sei „eine Bestätigung (…) dafür, dass Fotografie häufig gekonnter und einfallsreicher ist, wenn sie volkstümlich daherkommt, als die geschliffenen Produkte des Fotojournalisten oder des Fotokünstlers“.
Nach zwei Jahren in Irland kehrte Martin Paar 1982 nach Grossbritannien zurück, nach Wallasey in der Nähe von Liverpool. Beeinflusst von amerikanischen Vorbildern wie Joel Meyerowitz oder William Eggleston, begann er in Farbe zu fotografieren. Drei Sommer lang dokumentierte er im heruntergekommenen Seebad New Brighton unverblümt das Strandleben der britischen Arbeiterklasse, ein Projekt, dessen Früchte im Buch mit dem doppelsinnigen Titel „The Last Resort“ zu sehen sind.
Autor und Kurator Gerry Badger zufolge ist „The Last Resort“ sowohl für die britische Fotografie wie für Martin Parr von nicht zu unterschätzender Bedeutung: „Für beide ist es ein grundlegender Wandel im fotografischen Ausdruck, von Monochrom zu Farbe, ein tiefgreifender technischer Wandel, der in der Dokumentarfotografie die Entwicklung einer neuen Tonart eingeläutet hat.“
Vorwurf der Ausbeutung
Doch die grellen Bilder aus New Brighton provozierten im Grossbritannien Margaret Thatchers auch herbe Kritik. Parr, hiess es, beute die Unterschicht des Landes aus und rücke sie in ein schlechtes Licht. Doch darum ging es dem Fotografen keinesfalls: Er dokumentierte lediglich, was es an jenem trostlosen Strand alles zu sehen gab, ohne zu schönen oder moralisch zu werten.
Kurioserweise hatten die Aufnahmen kein Aufsehen erregt, als sie anfänglich in Liverpool gezeigt wurden. Erst 1986 anlässlich der Ausstellung in der Serpentine Gallery in London wurden Stimmen laut, die Martin Parr vorwarfen, auf dem Rücken wehrloser Leute billige Sozialkritik zu üben und damit einen Haufen Geld zu verdienen. Er habe sich damals tatsächlich zum Teil missverstanden gefühlt, räumt der Fotograf heute ein, aber das habe ihm nicht geschadet, weil es die Briten dazu brachte, seine Bilder anzuschauen: „Es ist mir egal, was die Leute sagen oder schreiben. Ich bin ziemlich locker.“
Auch in seinen folgenden Arbeiten, in denen er den Alltag der britischen Mittelklasse („The Cost of Living“) dokumentierte, die Auswüchse des Massentourismus („Small World“) festhielt oder dem globalen Konsumwahn („Common Sense“) nachspürte, ging es Martin Parr nicht darum, einzelne Segmente der Bevölkerung der Lächerlichkeit preiszugeben. Freizeitverhalten, Konsum und Tourismus sind für ihn schlicht Aspekte der „condition humaine“, die sich vorurteilslos festzuhalten lohnen: „Ich zeige die Dinge, wie ich sie antreffe.“
Serien statt Einzelbilder
Er warte in seinem Job, sagt der Fotograf, nicht auf Aufträge, sondern bestimme frei, wohin er gehen und was er ablichten wolle. Anschliessend versuche er, für seine Arbeiten Abnehmer zu finden, was ihm meistens auch gelingt. Im Übrigen glaubt Parr nicht, dass der Markt für Fotografie in Magazinen ausgetrocknet ist: „Oft können sich Fotografen nicht klar genug vorstellen, welche Sujets Zeitschriftenredaktoren interessieren.“ Sein bevorzugtes Sujet: „der Reichtum der westlichen Welt“. Wobei er überzeugt ist, dass sich gute Fotografie nur in Serien, in ganzen Arbeiten, realisieren lässt und nicht auf der Jagd nach dem einen, ikonischen Bild.
Jungen Berufskollegen rät Martin Parr, Material zu finden, das sie fesselt, und dieses wie besessen, aber mit Stil zu fotografieren – mit einem persönlichen, unverwechselbaren Ansatz. Er empfiehlt angehenden Fotografen auch, sich nicht vor schlechten Aufnahmen zu fürchten: „Die meisten meiner Bilder sind Ausschuss und lassen sich leicht löschen.“ Jüngst hat Parr für einen Auftrag über das „Rhabarber Dreieck“, einen Landstrich in West Yorkshire, laut eigener Angabe 3000 oder 4000 Aufnahmen gemacht, von denen am Schluss 40 Bilder als brauchbar übrig blieben: „Wenn ich wüsste, wie eine einzigartige Fotografie zu machen ist, würde ich aufhören.“
Kein Ruhestand geplant
Doch zurückziehen will sich Martin Parr nicht. Zum einen dürften ihm die Ideen, was er alles noch fotografieren will, nicht so rasch ausgehen. Zum andern bleibt er Präsident von Magnum, gibt Bücher heraus und kuratiert Ausstellungen wie letztes Jahr eine Exhibition im Barbican Centre in London zum Thema, wie ausländische Fotografen seit den 1930er-Jahren Grossbritannien gesehen haben. Ferner ist Parr ab und zu fürs britische Fernsehen tätig und dreht Dokumentarfilme wie den amüsanten Einstünder „Turkey and Tinsel“, die Aufzeichnung einer fröhlichen Vorweihnachts-Party für Seniorinnen und Senioren in der englischen Kleinstadt Willenhall.
Auch die Schweiz hatte der Brite schon im Visier. Im Zürcher Museum für Gestaltung hat Parr vor drei Jahren neben anderen Arbeiten seine Serie „Think of Switzerland“ gezeigt, eine Annäherung an Besonderheiten und Clichés wie etwa den Rummel ums Matterhorn. Die Arbeit ist im Juni 2013 auch als „DU“-Heft erschienen. Denkt Martin Parr heute an die Schweiz, fällt ihm nicht viel Neues ein, ausser dass die alten Eigenarten nach wie vor bestehen und das Land noch teurer geworden ist. Doch nett, wie er ist, fügt er hinzu: „Alles ist sauber, aufgeräumt und schön.“ Fast wie im richtigen Leben.
Martin Parr ist am Freitag, dem 6. Januar 2017, um 20.00 Uhr an der Photo17 in der Maag Halle in Zürich zu Gast, um über seine Arbeiten zu sprechen (weitere Infos unter www.photo-schweiz.ch).