Dieser Hass liegt dem Terror und der kriegerischen Gewalt zugrunde. Das ist eine weit verbreitete Meinung. Aber hält sie einer genaueren Analyse stand?
Das schlechte Gewissen
Das einprägsamste Bild für den Hass auf den Westen ist 9/11. Das hat Amerika ins Mark getroffen. Fassungslos fragten einzelne Amerikaner: Warum werden wir so gehasst? Europäer sind da nüchterner, nicht ganz so fassungslos. Denn viele von ihnen werden vom schlechten Gewissen geplagt. Das Sündenregister ist lang.
Es gab die Kreuzzüge, es gab den Kolonialismus und in der Folge den Imperialismus. Dass die unterdrückten oder zumindest übervorteilten Völker mit Hass auf die „Arroganz der Macht“ reagieren, ist plausibel. Es ist so plausibel, dass sich genauere Betrachtungen scheinbar erübrigen. Doch es bleiben Fragen.
Welcher Westen?
So stellen die Kreuzzüge pauschal und grob betrachtet ganz sicher Verbrechen in grösstem Massstab dar. Unter dem Banner der christlichen Religion wurden Eroberungen gemacht, es wurde geraubt, geplündert und gemordet. Die Heere kamen aus dem Westen, aber was war damals der Westen?
Der Westen befand sich im tiefsten Mittelalter, seine Staatsformen waren monarchisch und weit von dem entfernt, was seit der Bill of Rights, der Declaration of Independence und der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen zum westlichen Standard werden sollte. Ganz sicher haben die Kreuzzüge Hass ausgelöst, aber der Adressat hat sich seitdem so verändert, dass er von diesem Hass gar nicht mehr erreicht werden kann.
Das hartnäckige Vorurteil
Mit dem Kolonialismus sieht es anders aus. Er ist historisch näher, und die Schande der Sklaverei ist nur zu einem Teil wirklich ins Bewusstsein des Westens getreten. So haben die Menschenrechtsdeklarationen den Kolonialismus mit der Sklaverei derartig wenig tangiert, als ob es sich dabei um völlig wesensfremde Praktiken handelte. Und bis heute weist der Impicit-Test der Harvard University nach, dass der durchschnittliche Westler erhebliche Vorurteile gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe hat. Er nimmt sie schlichtweg nicht für voll.
Und ganz sicher muss dem Westen vorgeworfen werden, dass er bei der Ausbeutung von Rohstoffen zum Teil skrupellos vorging und vorgeht und seine Märkte zum Beispiel gegen Agrarprodukte aus Ländern der „Dritten Welt“ abschottet – Terms of Trade. Umgekehrt klagen westliche Unternehmen, NGOs, aber auch Regierungsorganisationen, dass sie bei der Verfolgung guter Absichten insbesondere in Afrika durch Vetternwirtschaft und Korruption massiv behindert werden.
Der Zauberlehrling
Auch ohne rassistische Einfärbung muss festgestellt werden, dass sich die Hoffnungen auf eine gedeihliche politische Entwicklung Afrikas meistenteils massiv enttäuscht worden sind. Das aber tilgt nicht die Schuld des Westens. Denn willkürliche Grenzziehungen und die Zerstörung gewachsener sozialer Strukturen sind möglicherweise eine Ursache für die gegenwärtige Misere. Es ist äusserst arrogant, Gemeinschaften von hoher Warte aus Dysfunktionalität vorzuwerfen, die man vorher massiv beeinträchtigt hat.
Die Misere Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens kann aber auch Gründe haben, die nicht in der Kolonialgeschichte liegen. Wir wissen nicht, wie sie sich ohne westliche Usurpation entwickelt hätten. Aber es lässt sich vermuten, dass der westliche Einfluss Konflikte zwischen Stämmen und Religionen eher verschärft als gemildert hat. Denn mit dem Zerfall gewachsener Ordnungen geraten Konflikte erfahrungsgemäss auf Bahnen, auf denen sie nicht mehr zu steuern sind.
Was das bedeuten kann, zeigen die Interventionen des Westens im Irak und in Afghanisten. Die Ziele der Interventionen wurden nicht erreicht, dafür stiegen Kosten und Verluste. Also zog sich der Westen zurück und hinterliess Kräften das Feld, die sich im Zuge des westlichen Agierens immer stärker radikalisiert haben. Der Westen ist ein Zauberlehrling.
Verspielte Glaubwürdigkeit
Und man kann verstehen, dass die Ignoranz, mit der er sich anmasst, in Länder einzugreifen, deren Kultur er schon deswegen nicht versteht, weil er sich gar nicht dafür interessiert, Hass auslöst. Der Westen möchte mit seiner Demokratie und seinen Menschenrechten Lehrmeister der Welt sein und scheitert kläglich. Er scheitert nicht nur, er verspielt auch seine Glaubwürdigkeit, weil er sich wieder und wieder nicht an die Regeln, die er dem Rest der Welt mit buchstäblich allen Mitteln verordnen will, hält.
Diese Zuschreibungen und Selbstbezichtigungen sind aber unvollständig. Denn nicht alle Zentren des Hasses lassen sich darauf zurückführen.
Der Hass der russischen Orthodoxie
So ist der Hass aus dem Osten, der sich jetzt geradezu eruptiv bemerkbar macht, stark durch die russisch-orthodoxe Kirche motiviert. Sie preist Stalin und wünscht dem Westen atomare Angriffe. Wohlgemerkt, wir haben es dabei mit einer christlichen Kirche zu tun. Ganz offensichtlich liegen hier kulturelle und konfessionelle Prägungen vor, die man nicht aus dem Verhalten des Westens in den vergangenen beiden Jahrhunderten ableiten kann.
In Bezug auf den religiös-kulturellen Hass stellt sich bei genauerer Betrachtung auch die Frage, ob die Zerstörung von heiligen Stätten und Kulturdenkmälern im Nahen Osten unter „Hass auf den Westen“ abgebucht werden muss. Schliesslich sind diese Stätten sehr viel älter als die in Frage stehende westliche Kultur, die mit deren Zerstörung angeblich auch getroffen werden soll. Überhaupt ist es höchst zweifelhaft, dass die derzeitigen Kriege und Bürgerkriege, die zu einem Teil entlang religiöser Konfessionen innerhalb des Islams und natürlich auch zwischen islamischen und christlichen Gruppen geführt werden, wirklich den gemeinsamen Nenner des Hasses auf den Westen haben.
Nicht satisfaktionsfähig
Immer klarer wird, dass es für den Terror des Islamischen Staates einen weitblickenden und bestens informierten Strategen gibt: Abu Bakr Naji. Er hat ein Handbuch verfasst, aus dem klar hervorgeht, worin die Methoden bestehen und was damit erreicht werden soll. Angst und Schrecken sollen durch exzessiv brutale und schockierende Gewalttaten verbreitet werden, um dadurch nicht nur den Westen, sondern auch Staaten, die von ihm beeinflusst werden, zu destabilisieren. Da es sich um einen Glaubenskrieg handelt, richtet er sich nicht nur gegen Christen. Vielmehr stehen „Ungläubige“ aller Provenienz auf den Terrorlisten.
Was bedeutet es eigentlich, dass der Westen nur deswegen im Visier dieser Art des islamistischen Terrors ist, weil er nicht zum fundamentalistischen Islam gehört? Wenn das der Grund sein sollte, dann wären diese Teile des Islams und seine Protagonisten nicht einmal satisfaktionsfähig. Sie wären nichts anderes als gefährliche Kinder, die - mit westlicher Technik in der Hand - Unheil ohne Ende stiften können.
Kristallines System
Ein solcher Feind enthebt den Westen von der Forderung nach Selbstkritik und Veränderung. Denn dieser Feind würde auch dann abgrundtief hassen und hemmungslos zuschlagen, wenn der Westen sich änderte. Es handelt sich um eine Art von religiös-ideologischem Rassismus.
Doch sollte man nicht vergessen, dass nicht aller Hass auf den Westen in diesem kristallinen System steckt. Wir wissen schliesslich nur zu genau, dass es etwas am Westen gibt, das jenseits religiöser Linien Hass auslöst. Diese Eigenart besteht in der Optimierung aller Lebensvollzüge im Zeichen der ökonomischen Effizienz. Alles muss sich irgendwie rechnen, sich zumindest messen lassen.
Selbstzweifel und Bescheidenheit
Dieses Optimierungsmodell ist so logisch und unausweichlich, dass man in ihm so etwas wie die „die letzte verbliebene Weltmacht“ sehen kann. Amerika ist als Nation keine fraglose Weltmacht mehr, denn Amerika ist seinem eigenen Erfolgsmodell kaum noch gewachsen. Andere Länder sind effizienter, wachsen schneller und setzen zum Überholen an.
Die Welt der Effizienz ist kalt und gnadenlos, auch wenn sie sich menschenfreundlich drapiert. Aus dieser Welt der Effizienz erwächst die Arroganz derjenigen, die sich darin durchgesetzt haben. Weil viele von diesen durchsetzungsstarken Typen vom Glauben durchdrungen sind, dass es jenseits des Kapitalismus nichts gibt, was einer nähere Beachtung wert ist, entsteht Hass – immer wieder neu.
Der Westen aber ist in diesem System gefangen. Sein Erfolgsmodell ist nicht so universal, wie er denkt. Wenn es Grund zu Selbstzweifeln gibt, dann ganz sicher hier. Das wäre ein erster Schritt zu einer Bescheidenheit, die ein gutes Mittel gegen den Hass wäre.