Gleich von mehreren Seiten sieht sich die westliche Kultur dem Vorwurf der Dekadenz ausgesetzt: Vertreter des Islams, der russisch-orthodoxen Kirche, aber auch mehr oder weniger radikale Nationalisten anderer Kulturen setzen den Westen mit Sittenverfall gleich.
Stolz und Abscheu
Das herausragende Reizthema auf beiden Seiten ist die Homosexualität. Während man im Westen auf die Toleranz stolz ist, äussern der Osten und der Orient pure Abscheu. Mit der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ist der Westen aus dieser Perspektive einen Weg zu Ende gegangen, der schon lange vorher mit der Lockerung der Sitten, der Auflösung der Familie und, vielleicht am wichtigsten, der Erosion religiöser Überzeugungen begonnen hat.
Der Westen kann gar nicht anders, als diese Vorwürfe entschieden zurückzuweisen. Denn Toleranz, Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit sind zu höchsten Gütern geworden, denen sich selbst tiefste religiöse Überzeugungen unterzuordnen haben. Nur ein Mohammed, der sich im Zeichen der Meinungs- und Kunstfreiheit sogar ins Lächerliche ziehen lässt, ist aus westlicher Sicht ein guter Mohammed. Man muss nicht betonen, dass es sich aus der Sicht des Islams genau umgekehrt verhält.
Der Motor der Aufklärung
Was die Kritiker des Westens antreibt, liegt auf der Hand: Religion und tief verwurzelte Sitten. Darin liegt ihre Identität. Worin besteht aber die kulturelle Identität des Westens? Auch hier ist die Antwort klar: Sie liegt in der neuzeitlichen Aufklärung. Sie hat eine Maschinerie in Gang gesetzt, die die Menschenrechte, liberale Staatsformen, Wissenschaft und Technik und die typisch westliche Kultur produziert hat und weiter produziert. Diese Maschinerie lässt sich nicht mehr stoppen.
Aber sie richtet auch Schäden an. Denn die Vernunft, die diese Maschine antreibt und sich als Richterin über althergebrachte Ordnungen, Sitten und religiöse Dogmen erhebt, kann in Terror umschlagen, wie es seit der Französischen Revolution wieder und wieder geschehen ist. Sie ist bei weitem nicht so human, wie sie es sich auf ihre Fahnen geschrieben hat. Auch dort, wo sie längerfristig und vergleichsweise still zu Werke geht, schafft sie neue und zum Teil unlösbare Probleme.
Unter der Signatur der Technik
So stellt sie das Leben unter ein technisches Verständnis. Das lässt sich unter anderem an den Fortschritten der Reproduktionsmedizin beobachten. Von der pränatalen Diagnostik über die künstliche Befruchtung bis zur Genmanipulation mit der Prätention, Erbkrankheiten zu therapieren, wird das Leben zum Gegenstand von Eingriffen. Niemand kann heute noch die Frage beantworten, von welchem Zeitpunkt an es eine unantastbare Würde hat und wann es diese wieder verliert.
Unter dieser Signatur ist es einfach nur logisch, alle Tabus in Bezug auf die Sexualität abzuräumen. Und dass die Natur zwei Geschlechter kennt, ist ein letztes Ärgernis, das die Gender-Bewegung mit wachsendem Erfolg seit mehr als zwei Jahrzehnten bekämpft.
Sitten lassen sich nicht argumentieren. Sie sind gewachsen, sie sind historische Gebilde. Wer an ihnen hängt, riskiert, als rückständig eingestuft zu werden. Fortschrittlich ist, wer sich um Sitten nicht schert. Unsere Gesellschaft hat das verinnerlicht. Deswegen gibt es einen Trend zum Vulgären, wie der Marketingspezialist und Trendforscher David Bosshart feststellt. Und Asfa Wossen-Asserate, der einen Bestseller über Manieren geschrieben hat, macht sich mit seinem subtilen und feinen Humor darüber lustig, wie Formlosigkeit und Bequemlichkeit zu obersten Maximen der Massenkultur geworden sind.
Sittenverfall und Niedergang
Wenn Sittenverfall diagnostiziert, beklagt und angeprangert wird, verbindet sich damit noch eine andere Vorstellung: Niedergang. Edward Gibbon hat in seiner Geschichte des Niedergangs des Römischen Reiches, die Wurzel der Dekadenztheorie, im Sittenverfall eine wichtige Ursache für das Ende gesehen. Spätere Theoretiker wie Oswald Spengler haben ihre Theorie weiter gefasst. So wurde allgemeiner von Blüte- und Verfallszeiten von Kulturen gesprochen.
Nicht nur aus der Sicht der Kritiker des Westens stellt sich die Frage, ob sich die westliche Kultur derzeit in einer solchen Verfallsphase befindet. Wie steht es um ihren Selbstbehauptungswillen? Ist der stark und vital genug, um sich in einer Welt wachsender Konflikte zu behaupten?
Ende des Heroischen
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht den Westen in einer „postheroischen“ Phase. Der Krieg ist nicht mehr die Zeit der Helden, sondern er wird als ein aufgezwungenes Übel betrachtet, das mit so wenig Opfern wie möglich bewältigt werden soll. Das sprechendste Beispiel dafür sind die Drohnen. Sie mögen „Kollateralschäden“ verursachen, aber ihre Piloten sitzen in sicheren Bunkern. Wäre in den USA der Krieg gegen Hitler mit der damaligen Waffentechnik heute noch einmal durchsetzbar?
Der Mangel an heroischem Willen zur Selbstbehauptung liegt nicht nur daran, dass sich im Westen der Wohlfahrtsstaat durchgesetzt hat, der seinen Bürgern nur noch versteckt, keinesfalls offen, Opfer abverlangt. Vielmehr hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch ein Schuldbewusstsein herausgebildet, das mit der kolonialen Vergangenheit zusammenhängt. Auch wenn, wie Jean Ziegler beklagt, der Westen in der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit nicht weit genug geht, zeigt sich dieses Schuldbewusstsein zum Beispiel daran, dass Parolen der Abgrenzung gegen Menschen anderer Hautfarbe und die damit verbundene Intoleranz allein dem rechten Rand westlicher Gesellschaften vorbehalten sind.
Selbstbezichtigung und Schwäche
Aber könnte es nicht auch sein, dass eine Kultur der Selbstbezichtigung schwächelt? Dann bestünde die Dekadenz gerade in dem, was man als eine Verfeinerung der Selbstwahrnehmung und des Gewissens bezeichnen könnte. Man weiss: Verfeinerung geht auf Kosten der Robustheit. Denker der Stärke und der Macht haben deswegen grossen Wert auf eine Moral gelegt, die die Skrupel nicht zu gross werden lässt. Das kann man auch heute noch vom wichtigsten modernen Denker der Dekadenz lernen: Friedrich Nietzsche. Der Dekadenz stellte er den „Willen zur Macht“ entgegen.
Die Zeitschrift Merkur, die sich dem „europäischen Denken“ widmet, hat ihre 700. Ausgabe, die 2007 im 61. Jahr ihres Erscheinens herauskam, dem Thema der Dekadenz gewidmet und überschrieben: „Kein Wille zur Macht“. Man findet darin eine Reihe von scharfsinnigen Analysen. Ein Beitrag aber beleuchtet das Thema von einer völlig ungewohnten Seite: der Demographie. Dieser Beitrag stammt von dem Bremer Soziologen und Sozialpädagogen Gunnar Heinsohn.
Das Argument der Demographie
Die Demographie spielt bei Kriegen und Eroberungen nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Kämpfer, die sich in den gegnerischen Heeren gegenüberstehen, eine Rolle. Viel wichtiger ist der Zusammenhang zwischen der Demographie und der Motivation zum Krieg. Heinsohn zeigt, dass immer dann, wenn es Überbevölkerung gibt, grosse Populationen von Männern ohne Auskommen und Aufstiegschancen sind. Denn nie hält das Wirtschaftswachstum mit dem Bevölkerungswachstum Schritt. Ganz im Gegenteil: Die Bevölkerung wächst dort am stärksten, wo die Wirtschaft am schwächsten ist.
Für Männer ohne Auskommen und Aufstiegschancen ist der Krieg der grosse Erlöser. Hier können sie sich beweisen und Ruhm und Ehre erlangen. Sie befinden sich, wie Herfried Münkler sagen könnte, in einem heroischen Stadium. Friedrich Schiller hat das, wie Heinsohn schön darlegt, in seinem Wallenstein zum Ausdruck gebracht.
Ruhm und Ehre
Der Westen steht nun in einem doppelten Dilemma: Er hat es nicht nur mit einer wachsenden Bevölkerung im Nahen Osten, Afrika und Asien zu tun, während seine Bevölkerung tendenziell schrumpft. Vielmehr entstehen „Heere“ von jungen Männern, die sich allein durch gewaltsame Handlungen beweisen können. Während im Westen im Zeichen sinkender Bevölkerungszahlen und ererbter ethischer Skrupel die Neigung zu gewaltsamen Konflikten abnimmt, entstehen in anderen Teilen der Welt hungrige Krieger.
Die Überzahl von Menschen korreliert, folgt man Heinsohn, mit Gewalt. Man muss sich also vorstellen, dass sich der Westen zunehmend einer wachsenden Zahl von Kriegern einschliesslich weiblicher Attentäter gegenübersieht. Das hat schon begonnen. Folgt der Westen dabei seinen Idealen des Rechtsstaates, der Menschenrechte und der Toleranz, könnte es eng für ihn werden. Gibt er diese Ideale auf, gewinnt er vielleicht die eine oder andere Schlacht, aber er verliert seine Identität.
Hemmende Skrupel
Es ist an der Zeit, die Signale zu hören. Neue Gefechte stehen bevor, aber es ist nicht gesagt, dass in ihnen eine Internationale das Menschenrecht erkämpft – oder es zumindest vorgibt. Dieser neue "Aufstand der Massen“ kann Blutmühlen in Gang setzen, wie sie seit dem Krimkrieg von 1853 bis 1856 und dem 1. Weltkrieg in Europa nur allzu bekannt sind. Auch damals hat keiner geglaubt, dass es dazu kommen würde.
Das Thema der Dekadenz gewinnt ungewollt an Schärfe, denn es wird zum Thema der Selbstbehauptung. Ja, der Westen ist „dekadent“ in dem Sinne, dass er seinen Werten folgt, die es ihm schwermachen, Gegner ohne Skrupel zu vernichten. Wenn Dekadenz mit Schwäche einhergeht, dann allein an diesem Punkt.
Der Preis des Sieges
Und nun sieht sich der Westen Mentalitäten und Bestrebungen gegenüber, die ihn nicht nur verachten, sondern auch gleich vernichten wollen. Stellungnahmen dieser Art reichen von Osama Bin Laden bis zur russisch-orthodoxen Kirche. Wie kann sich der Westen behaupten, ohne in gleicher Münze zurückzuzahlen?
Vordergründig gibt es die Alternative, dass der Westen an seiner vermeintlichen Dekadenz zugrunde geht, weil er sich nicht hart genug zu behaupten weiss. Das wird nicht geschehen. Schon jetzt verwenden Geheimdienste und „special forces“ Methoden, die keinem aufgeklärten rechtlichen Massstab standhalten. Man kann darin auch eine Degeneration des Rechtsbewusstseins sehen. Ist nur ein degeneriertes Bewusstsein ein wehrhaftes und siegreiches Bewusstsein?