Die Propagandisten des „Islamischen Staats“ (IS) sprechen regelmässig von «Kreuzfahrern», wenn sie gegen die westlichen Mächte polemisieren. Was für die Bewohner Europas und der amerikanischen Kontinente die Frage aufwirft, waren die Kreuzzüge ein «christliches » Unternehmen? Und: Waren die Kreuzfahrer oder Kreuzritter Christen?
Aus heutiger Sicht ist man versucht, die erste Frage ist zu verneinen. Denn für heutiges Empfinden kann das ungeheure Blutvergiessen, das die Kreuzfahrer veranstalteten, nicht als christlich bezeichnet werden. Ströme von Blut flossen nach der Eroberung Jerusalems, als die Kreuzfahrer dort alle Juden und Muslime mit Frauen und Kindern niedermachten. Und schon zuvor hatten die Volkskreuzzüge im Rheinland zu einer schweren Judenverfolgung geführt.
Die Kreuzritter plünderten die Städte der Levante, die sie erobert hatten. «Im Tempel und beim Portal Salomons, ritten die Männer im Blut bis zu ihren Knien und zu den Zügeln hinauf. Es war in der Tat ein gerechtes und herrliches Urteil Gottes, dass dieser Ort vom Blut der Ungläubigen volllaufen sollte, hatte er doch so lange unter ihren Gottesbeleidigungen gelitten.» So schreibt nicht etwa der IS, sondern Raymond D'Aguilers in seiner Historia Francorum qui ceperunt iherusalem.
Blutvergiessen der Christen?
Waren die Kreuzfahrer Christen? Bei dieser zweiten Frage wird man unsicher. Man sieht sich gezwungen zu antworten: Sie selbst betrachteten sich zweifellos als Christen. Auch ihre Zeitgenossen taten dies. Doch ob sie aus unserer heutigen Sicht des Christentums als solche gelten können, ist mindestens fraglich.
Offenbar gab es früher eine unterschiedliche Interpretation des Christentums, die auch vom damaligen Papst Urban II. nachdrücklich vertreten und ausdrücklich gefördert wurde. Sie stimmt offensichtlich nicht mit unserer heutigen Auffassung vom Christentum überein.
Blutvergiessen geht weiter...
Was zurückführt zum IS. Die Scheusslichkeiten, die er sich heute zu Schulden kommen lässt, sind wahrscheinlich geringer, als was die Kreuzfahrer damals anrichteten. Schlimmer können die IS-Massaker jedenfalls fast nicht sein. Doch die Zeiten haben sich geändert. In der heutigen aufgeklärten Zeit wird zwar noch immer häufig gefoltert. Doch die meisten der zeitgenössischen Folterer tun es im Geheimen und streiten es in der Öffentlichkeit ab.
Die heutigen Blutbäder, die durch hochtechnisierte Waffen angerichtet werden und sicher mehr Opfer fordern als früher, werden nicht mehr im Namen Gottes durchgeführt. Nur der IS kämpft noch im Namen des Propheten. In dieser Hinsicht ist er ein Anachronismus.
Zurück zum Propheten
Die gesamte Ideologie des IS ist anachronistisch. Vor allem die Forderung, in die Zeiten des Propheten zurückzukehren und einen Islamischen Staat zu errichten – ein Staat, der gleich sein soll oder so gleich wie möglich, wie der damalige, den der Prophet in Medina von 622 bis 632 nach Christus leitete.
Vor 50 Jahren, als Nasser in Ägypten herrschte, richtete sich die Polemik noch gegen die Kolonialisten und Neo-Kolonialisten. Heute aber will der „Islamische Staat“ wieder das „Kalifat“ errichten.
Die Werte der Aufklärung
Für unser Selbstverständnis liegt ein deutlicher Trennungsstrich zwischen uns und den Kreuzzügen. Er ist primär durch die Aufklärung gegeben - und durch alles was auf sie folgte. Für den IS gibt es keine Aufklärung im europäisch-amerikanischen Sinne, die auf die Entpolitisierung des religiösen Glaubens hinausläuft. Die IS-Ideologie will sie nicht zulassen.
Die Menschenrechte sind Errungenschaften der Aufklärung. Für den IS gelten sie so wenig wie für die Kreuzritter. Auch aufgeklärte Staaten verstossen gegen die Menschenrechte, manchmal sogar schwer. Sie fordern oft mehr Opfer als es die Greueltaten des IS tun. Nur töten aufgeklärte Staaten nicht mehr im Namen der Religion, sondern eher im Namen des Nationalismus - oder im Namen der angeblichen Nationalen Interessen oder im Namen der vermuteten Nationalen Sicherheit.
Fundamentalisten und Säkularisten
Der IS findet Zustimmung bei einem kleinen Teil der Menschen und Gruppen, die in der islamischen Tradition stehen oder sich zu ihr bekehrt haben. Wie gross diese Zustimmung auch immer sein mag: Die Anhänger des IS sind wahrscheinlich Leute, die die Aufklärung nie erreicht hat. Sie leben in Zeiten „vor ihr“ – vor der Aufklärung. Noch gibt es im arabischen Nahen Osten Menschen, die nie etwas von europäisch-amerikanischen Aufklärung erfahren haben. Anderseits gibt es andere, welche die aus Europa eingeführten Ideen der Aufklärung, völlig oder weitgehend übernommen haben.
Der Unterschied zwischen den beiden Bevölkerungsteilen wurde deutlich, als nach den Volksdemonstrationen von 2011 die Frage diskutiert wurde:
Wie soll es weiter gehen? Die wichtigste Spaltung aller betroffenen Völker war die zwischen Islamisten und Säkularisten. Ein «Säkularist» bedeutet in diesem Zusammenhang eine Person, die die Aufklärung erreicht hat und ihr nachlebt. Sie möchte Religion und Staat soweit wie möglich trennen.
Erlernt von den Kolonialisten
Diese Haltung vertreten im Nahen Osten die «europäisierten» Minderheiten und bisherigen Oberschichten. Historisch gesehen sind dies Menschen, die teilnahmen am Gedankengut der kolonialen Herrscher. Nicht notwendigerweise indem sie zu deren Dienern wurden.
Es gab auch solche, die das fremde Gedankengut übernahmen, um es gegen die Kolonialherrscher und ihre Ausbeutung anzuwenden.
Doch gegenwärtig wird deutlich, dass es auch grosse Bevölkerungsteile in der islamischen Welt gibt, denen die Aufklärungswerte wenig oder gar nichts bedeuten. Für sie wird der "Voraufklärungsislam" immer wichtiger.
Innerislamische Entwicklung
Dieser „Voraufklärungsislam“ ist zwar nicht von der euro-amerikanischen Aufklärung berührt worden, doch auch er hat eine Entwicklungsgeschichte. Sie ist durch die einschneidende Präsenz der europäischen Kolonialmächte geprägt worden. Grosso modo hatten in der vorkolonialen Zeit die islamische Mystik und mit ihr Wunderglaube, Heiligen-Verehrung, Schicksalsergebenheit, Ambiguitätstoleranz (um mit Thomas Bauer zu reden) eine grosse Rolle gespielt.
Demgegenüber hat sich zur Zeit der westlichen Vormacht, die bis heute andauert, der «Fundamentalismus» entwickelt. Das heisst, das Bestreben, zu den "vermuteten" Fundamenten der Religion zurückzukehren.
Nur von aussen gesehen sind diese Grundlagen „vermutet“. Für den «Fundamentalisten» selbst jedoch bilden sie eine feste, als sicher geltende Gegebenheit und Lebensgrundlage. Gewonnen werden sie durch möglichst wörtliches, soweit möglich nicht ausgelegtes und interpretiertes Verständnis des Korans, ergänzt durch die als sicher geltenden Überlieferungen vom Lehren, Tun und Lassen des Propheten.
Reaktion auf das Fremde
Diese Entwicklung, weg vom Wunder, hin zum Vorbild, hat wohl damit zu tun, dass die Gläubigen unter dem Druck der Fremden, die sie zu beherrschen begannen, nach solidem Halt suchten. Da Fremdes in ihr Leben getragen wurde, waren und bleiben handfeste Fundamente gefragt.
So hat es unter den vielen Glaubens- und Verständnisvarianten des Islams immer wieder – neben andern - fundamentalistische Strömungen gegeben.
Sie gehen bis auf Mohammed Ibn Hanbal zurück. Er lebte von 780 - 855 in Bagdad. Wiederbelebt und weitergeführt wurden sie durch den Begründer des «Wahhabismus» Ibn Abdul Wahhab (1705-1792). Sein Islamverständnis sollte zur Lehre des saudischen Staates werden (genauer der drei aufeinander folgenden saudischen Staaten, die es bisher gegeben hat).
Halt und Sicherheit
Beginnend in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Saudi-Arabien mit Teilen seines Erdöleinkommens dafür gesorgt, dass die wahhabitische Lehre sich weit in der islamischen Welt ausbreitete.
Doch dieser Umstand sollte nicht die Tatsache überdecken, dass «fundamentalistische» Religionsauffassungen im Zuge der islamischen Zeitgeschichte liegen. Noch mehr als auf den saudischen Geldern beruht ihre gegenwärtige Wirksamkeit auf dem Umstand, dass die heutigen Gläubigen in einer Zeit der „Postaufklärung“ in ihrem Glauben Halt und Sicherheit benötigen und suchen.
Der IS als extremer Fundamentalismus
Wenn man den IS ernst nehmen will, das heisst: Wenn man ihn nicht bloss bombardiert, sondern versucht, ihn als Phänomen zu begreifen, so muss man in Betracht ziehen, dass ein Teil der Bevölkerung hin- und hergerissen ist von einer Welt vor und nach der Aufklärung und jetzt Halt und Sicherheit sucht.
Zugegeben, dabei gibt es auch um den Willen zur Macht, offenbar in erster Linie bei den Führungspersonen und unter den baathistischen Offizieren und Geheimdienstleuten Saddam Husseins, die sich heute dem IS angeschlossen haben, nachdem die Amerikaner ihnen ihre Lebensgrundlage entzogen hatten.
Doch bei der Basis wirkt offensichtlich tatsächlich ein fundamentalistisch gerichteter religiöser Antrieb voraufklärerischer Natur. Er erlaubt seinen Anhängern, sich selbst als Muslime zu sehen. Sie glauben ihrer Ideologie, dass sie durch ihre Bluttaten den Himmel erlangen können.