Kein islamistischer Terrorakt ohne die Bekenntnisformel «Allahu akbar». Sie wurde wieder laut beim bestialischen Mord am Lehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort, beim Niedermetzeln dreier Menschen in der Kathedrale von Nizza und bei der wahllosen Tötung und Verletzung von Menschen in der Wiener Innenstadt. Schon lange begleitet das gefürchtete «Allahu akbar» den islamistischen Terror. Nichtmuslime müssen diese Worte, die in weiten Teilen der Welt als Ruf zum Gebet von Minaretten herunterschallen, inzwischen mit dem Schlachtruf mordender Islamisten identifizieren.
Diese Gleichsetzung wird von nichtradikalen Muslimen und deren Fürsprechern oft als islamfeindlich gebrandmarkt. Doch so einfach ist es leider nicht. Denn in der Tat vereinnahmen Dschihadisten unterschiedlicher Observanz mit ihrem Terror den Islam pauschal. Mit ihren kriegerischen Operationen, ausgeführt von radikalisierten Einzeltätern oder von militärisch agierenden Organisationen, verfolgen sie konsequent zwei Ziele.
Zum einen geht es den Terroristen darum, ihre sektiererische und blutrünstige Doktrin als den einzig wahren Islam durchzusetzen. Dies erklärt, weshalb die meisten ihrer Opfer Musliminnen und Muslime sind.
Zum andern zielt islamistischer Terror – vor allem in Europa – auf «die Ungläubigen» und damit auf die westliche Kultur und Lebensweise. Dschihadisten können zwar nicht hoffen, «den Westen» zu besiegen oder zu bekehren. Was sie aber anstreben, ist Einschüchterung der Gesellschaft, Destabilisierung des Staats, Zurückweisung einer von Aufklärung, Säkularität und Laizismus geprägten Kultur sowie die Verhinderung jeglicher Integration der im Westen lebenden Muslime.
Dass Gewalttäter religiöse Bekenntnisformeln zu ihrem Schlachtruf machen, ist historisch nicht neu. «Deus lo vult» (mittellateinisch für «Gott will es») war die Devise beim Aufbruch zum ersten Kreuzzug im Jahr 1095. Dessen ungeachtet ist das «Allahu akbar» der Dschihadisten heute eine ungeheure Herausforderung an den Islam. Es fehlt denn auch nicht an wiederholten Äusserungen von prominenten Vertretern dieser Religion, die den Terror unzweideutig verurteilen. Trotzdem entsteht immer wieder der Eindruck, die muslimischen Gemeinschaften duckten sich unter der terroristischen Bedrohung. Davon abgesehen gibt es auch eine teils verdruckste, teils schamlos offene Szene von Sympathisanten der Dschihadisten.
Nun ist allerdings der Islam mit dieser Zerreissprobe nicht allein. Beim Christentum muss man gar nicht weit in die Geschichte zurückschauen: Nordirlands mühsam eingehegter Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken, der jederzeit wieder aufflammen kann, ist zwar nationalistischen Ursprungs, aber zusätzlich konfessionell befeuert. Gewaltsamen Extremismus legen heute auch christliche Fundamentalisten in den USA bei ihrem Kampf gegen Abtreibungen an den Tag.
Auch das Judentum kennt Extremismus. Radikalisierte Traditionalisten versteigen sich immer wieder zu übler Hetze und haben mehrfach mit Mord und Terror Besitzansprüche auf ihr «heiliges Land» durchzusetzen versucht.
Hinduismus und Buddhismus galten lange als beispielhaft friedliche Religionen. Inzwischen weiss man von gewalttätigem Hindu-Nationalismus in Indien und buddhistisch aufgeladenem Staatsterror gegen die muslimischen Rohingya in Myanmar.
All diesen extremistischen und vielfach terroristischen Strömungen ist gemeinsam, dass sie ihre Untaten nicht etwa bloss religiös «entschuldigen». Vielmehr begreifen sie die Gewalt als unbedingtes Gebot ihres Glaubens und sind deshalb stolz auf ihr Tun.
Religionen verbinden sich leicht mit Machtansprüchen und lassen sich zur Legitimation von Gewalt und Krieg missbrauchen – dies nicht nur oft widerstandslos, sondern geradezu enthusiastisch (man muss nur die deutschen Kriegspredigten ab 1914 nachlesen). Solche Auswüchse sind offenkundig bei allen grossen Religionen möglich; leidvolle geschichtliche Erfahrungen beweisen es.
Sollen Religionen nicht in lebensfeindliche Doktrinen ausarten, so müssen sie zivilisiert werden. Immunität gegen Unmenschlichkeit gibt es nicht, weder in religiösen Belangen noch allgemein in der Gesellschaft. Menschenfreundliche Zivilität erfordert permanente Anstrengung, sie ist eine Frucht von Bildung und Kultivierung.
Impulse zur Humanisierung von Religion müssen von innen wie von aussen kommen. Von innen heisst: Religionsgemeinschaften müssen sich über sich selbst aufklären, sich ihrer Geschichte und der Auseinandersetzung mit Kritikern sowie mit Anders- und Nichtgläubigen stellen.
Von aussen – also von Staat, Recht, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft – müssen Religionen in einen säkularen Diskurs eingebunden und auf gemeinsame Normen der pluralistischen Gesellschaft verpflichtet werden. Glaubensgemeinschaften stehen nicht über oder ausserhalb der Welt und können dieser gegenüber weder abgeschottete Wahrheiten noch exklusive Werte geltend machen.
Was für alle gilt in einer Gesellschaft, kann nur im offenen Diskurs ausgehandelt und plausibilisiert werden. Dafür ist es dann ohne Ausnahme für alle verpflichtend. In Europa umfasst dieser Konsens Menschenrechte, insbesondere Gleichberechtigung der Geschlechter, individuelle Freiheit, Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz sowie Toleranz und Wohlwollen.
Die Zivilisierung der Religionen ist eine niemals abgeschlossene Aufgabe. Aber sie präsentiert sich in unterschiedlichen historischen Situationen für die einzelnen Religionen nicht immer in gleichem Mass kritisch und krisenhaft. Im Blick auf das heutige Europa ist kaum abzustreiten, dass vor allem die Zivilisierung des Islam eine gewaltige Herausforderung darstellt.