Die Stilmittel, die Lindbergh hier verwendet, sind puristisch und streng. Alle Fotos sind schwarzweiss, dunkle Töne herrschen vor, besonders stark bei den Hintergründen. Der grosse Band hat Querformat. Die Fotos füllen stets die ganze Seite. Man kann sich das jeweilige Aufnahmestudio wie eine Bühne denken, auf der die Schauspielerinnen, die Lindbergh porträtiert, nach und nach auftreten.
Die Wirklichkeit hinter der Fassade
In einem anderen Bildband, der im vergangenen Jahr erschienen ist, sagt Peter Lindbergh: „Ich möchte wirkliche Personen fotografieren, nicht das Model. Was mich interessiert, ist die gewisse Wirklichkeit hinter der Fassade.“ (1) Entsprechend hat Lindbergh seinen Schauspielerinnen die Aufgabe gestellt, nicht dieses oder jenes zu spielen, sondern einmal ganz das auszudrücken, was sie selbst für sich empfinden und was in ihnen vorgeht.
Damit das gelingen kann, bedarf es eines begnadeten Fotografen, der ein nicht weniger begnadeter Mensch ist. In einem der Statements, die von jeder Schauspielerin dem Band beigefügt sind, schreibt Charlotte Rampling: „Er möchte zum verletzlichen Teil Deines Wesens vordringen, den man vielleicht nur denen zeigt, die man innig liebt. Ich will aber, dass er ihn zeigt! Ich möchte mich den Menschen durch seine Augen zeigen.“
Konzentration
Es liegt daher nicht am quantitativen Umfang des Bandes mit seinen 292 Seiten, dass man ihn nicht in einem Zug durchblättern kann. Die Intensität der Begegnungen wirkt unmittelbar auf den Betrachter, und der formale Purismus steigert diese Wirkung noch. Nirgends wird man auflockernde oder verspielte Elemente finden, die aus der Konzentration herausführen. Unerwartete Details, ungewöhnliche Perspektiven und Beleuchtungseffekte gibt es immer wieder, aber sie steigern die Konzentration, anstatt abzulenken.
Der Band heisst „Shadows on the Wall“, und die von Lindbergh porträtierte Schauspielerin Jessica Chastain schreibt dazu: „ ... Licht und Schatten an der Wand findet er aufregend. Seine Begeisterung beim Fotografieren ist ansteckend ...“ Vielleicht hat Lindbergh mit diesem Titel noch auf etwas anderes angespielt. In seinem berühmten Höhlengleichnis hatte Platon von Schatten an Wänden gesprochen, die die Abbilder der reinen Ideen sind. Könnte Lindbergh daran gedacht haben und die Schatten als Abbilder des wahren Kerns der fotografierten Menschen betrachten?
Das Reich der Ideen ist nach klassischer Auffassung das Reich des Schönen. Bezogen auf die menschliche Persönlichkeit formuliert Lindbergh: „Meine eigene Definition von Schönheit ist sehr einfach: `Du bist schön, wenn Du den Mut hast, Du selbst zu sein!`“ Dieser Aussage schliesst sich eine Polemik gegen die mit „Mode befassten Medien“ an, die die „Spuren des Lebens“ tilgen wollen und „durch sinnlose Perfektion“ ersetzen.
Street Photography
Lindbergh war aber selber Modefotograf. 1995 und 1997 wurde er als „Bester internationaler Modefotograf/The Fashion Awards“ in Paris ausgezeichnet – gewählt von einer international besetzten 400-köpfigen Jury. Regelmässig war er in Vogue, der späteren Marie Claire, und Vanity Fair vertreten. Allerdings legten auch damals schon seine Bilder – überwiegend schwarzweiss – einen Fokus auf die Persönlichkeiten der Models. Zudem hat er mehrere Jahrgänge des Pirelli Kalenders gestaltet, zuletzt 2017.
Das Verbindende zwischen der kompromisslosen Suche nach Authentizität und der Modefotografie liegt bei Lindbergh in der Street Photography. Zusammen mit Gary Winogrand, zum Teil auch mit Joel Meyerowitz, eröffnete Lindbergh ein neues Kapitel der Fotografie. Es ging darum, auf der Strasse jene Momente einzufangen, in denen das Licht, die Menschen und die Gebäude für wenige Sekunden oder Sekundenbruchteile in eine Konstellation kamen, die emblematisch war. Da wurde nichts inszeniert wie beim Porträt oder in der Modefotografie. Die Fotografen waren rastlos unterwegs, fasziniert und in jeder Sekunde hellwach.
Und speziell Lindbergh war immer auf der Jagd nach Frauen. Er liebte die Art, wie sie sich auf der Strasse bewegten, wie sie im Alltag ganz bei sich waren. Da sind ihm unvergänglich schöne Schnappschüsse gelungen. Und selbstverständlich hat diese Sichtweise seine Modefotografie beeinflusst, so dass von ihr eine Faszination ausging, die ihn selbst über so geniale Fotografen wie Annie Leibovitz oder Irving Penn wenigstens für Momente heraushob.
Es ist dieser gesättigte Hintergrund von Peter Lindbergh, der die „Shadows on the Wall“ zu einem der ganz grossen Bildbände unserer Zeit macht. Der Meister hat nicht nur eine Probe seiner Kunst geliefert. Er hat etwas offenbart.
Peter Lindbergh. Shadows on the Wall, Hardcover, 292 Seiten, Taschen 2018
(1) Lindberg Winogrand Women, Mit Texten von Werner Spies, Joel Meyerowitz, Ralph Goertz, Walther König, Köln 2017