Es ist nicht möglich, von Annie Leibovitz nicht beeindruckt zu sein. Seit Jahrzehnten erweist sie sich wieder und wieder als kreative und effektvolle Fotografin, die souverän diverse Stile beherrscht: von makellosen Modefotos bis zu sehr persönlichen, fast hingehuschten Bildern von ihrer Familie oder ihrer inzwischen verstorbenen Lebenspartnerin Susan Sontag.
Turbulente Party
Ihr gelingt einfach alles, und sie schlägt mit ihren Fotos alle in den Bann. Als der vorliegende Porträtband im Oktober 2017 bei Schirmer/Mosel erschien, schrieb der Verlag in der Pressemitteilung: „Das grossformatige Buch hat das Zeug, der Bildband der Saison zu werden.“
Gemessen an dieser Ankündigung ist das Echo etwas schwach ausgefallen. Begeisterungsstürme sind jedenfalls nicht aufgekommen. Es kann sein, dass dieser Band mit seinen 150 meist doppelseitigen und überwiegend farbigen Fotos die Betrachter schlicht und einfach übersättigt.
Allein die Auswahl und Anzahl der Prominenten wirken wie eine allzu turbulente Party. In seiner Ankündigung schreibt der Verlag: „In 150 grossformatigen Farb- und Schwarzweissaufnahmen porträtiert sie Persönlichkeiten aus Showbusiness, Wissenschaft, Kunst, Sport und Politik wie Adele, Benedict Cumberbatch, David Hockney, Zaha Hadid, Stephen Hawkins, Scarlett Johansson, Lady Gaga, Barack and Michele Obama, Michael Phelps, Queen Elizabeth II, Bruce Springsteen, Serena und Venus Williams und viele, viele andere, unter anderem auch die Trumps.“
Die Trumps und Obama
Das zuletzt erwähnte Foto von den Trumps aus dem Jahr 2006 zeigt die atemberaubende Inszenierungskunst von Annie Leibovitz, aber es macht auch ratlos. Das Foto entstand auf einem Rollfeld vom Palm Beach Airport. Einem zweistrahligen Privatjet entsteigt die fast nackte hochschwangere Melania, während Donald schon in einem Luxussportwagen mit offener Flügeltür wartet. Was soll das?
Es gibt andere Fotos, die nicht inszeniert sind und geradezu intim wirken. In ihrem Nachwort schreibt Annie Leibovitz, dass sie sich nicht als „gute Regisseurin“ fühle. Aber sie kann ganz offensichtlich ein Foto bis ins Letzte hinein planen und umsetzen. Gleichzeitig hat sie ein präzises Gespür für stille, geradezu intime Momente, denen sie nicht nachhelfen muss. Das Foto von Barack Obama im Oval Office zeigt etwas von diesem Können, selbst wenn die Fotografin auch hier gestaltend eingegriffen haben dürfte.
Wechselnde Hintergründe
Ein anderes sehr intim wirkendes Foto wirft ebenfalls Fragen auf: Leonard Cohen döst oder schläft in einem bequemen Sessel. Das Foto wurde in seiner Wohnung in Los Angeles im Jahr 2001 aufgenommen. In seiner rechten Hand, die über der Sessellehne ausgestreckt ist, glimmt eine Zigarette. Auf den ersten Blick wirkt dieses Bild äusserst anrührend. Aber selbst der exzessive Raucher Cohen dürfte kaum mit brennenden Zigaretten in der Hand geschlafen haben. Da ist zu viel inszeniert und zu wenig gedacht worden.
Ständiger Wechsel zwischen zum Teil aufwendig inszenierten Bildern mit Fotos, die an Schnappschüsse erinnern, das Schwanken zwischen Intimität und bewusster Selbstdarstellung der Porträtierten, die Sprünge von grossen und teilweise repräsentativen Räumen in winzige Zimmer oder, zwar selten, in Fotostudios: Das alles ist gekonnt, doch der Zusammenstellung der Bilder in diesem Band fehlt die Mitte. Bei einigen Fotos stellt sich zudem die Frage, ob es sich bei ihnen noch um Porträts handelt oder um andere Genres. Das liesse sich zum Beispiel am Bild von Natalia Vodianova in Paris, siehe oben, diskutieren. Eine solche Diskussion wäre erhellend und spannend.
Annie Leibovitz kann viel, man ist beeindruckt, aber von diesem Bildband nicht restlos überzeugt.
Annie Leibovitz: Portraits 2005–2016. München: Schirmer/Mosel, 2017. Mit Texten von Annie Leibovitz und Alexandra Fuller sowie Kurzbiographien der porträtierten Personen Aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy. 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln.