Fünfzig Jahre, 1969 bis 2019, sind in 212 Bildern in diesem Band versammelt. Der grösste Teil stammt aus den 35 Jahren, in denen Barbara Klemm von 1970 an als Redaktionsfotografin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig war. Aber auch nach 2005 reiste sie mit ihrer Leica durch die Welt und machte Bilder in dem unverwechselbaren Barbara-Klemm-Stil.
Der neue Bildband, den sie ihrem Mann gewidmet hat, ist in drei Teile gegliedert: Deutschland, Welt und Kunst. Der ehemalige Bundestagspräsident und jetzige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Norbert Lammert, hat ein ausführliches Vorwort verfasst und darin noch einmal die herausragende Bedeutung Klemms für das geschichtliche Selbstverständnis Deutschlands unterstrichen.
Der gewandelte Blick
Man kann sich dem Sog der Bilder, die man zum Teil kennt, die aber mit bislang unbekannten Aufnahmen ergänzt wurden, nicht entziehen. Die meisten Bilder haben eine atmosphärische Dichte, die bis heute nachwirkt. Man spürt, dass die Fotografin eine in höchstem Masse denkende Beobachterin ist, die souverän ihre Erkenntnisse auch in der Bildgestaltung zum Ausdruck bringt. Die Fotos sind wie extrem dichte Texte.
Barbara Klemm begeht Ende Dezember ihren 80. Geburtstag, und der neue Band steht damit in Zusammenhang. Er ist mehr als eine Bilanz, denn ihre neueren Arbeiten wirken nicht wie Abschiede. Sie setzt ihr Werk fort. Der Blick des Betrachters aber hat sich in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten verändert. Denn mit der Digitalisierung der Fotografie haben sich neue fotografische Stile entwickelt. Die heutigen Fotos von aktuellen Ereignissen sind farbig und zumeist von grösster Schärfe. Agentur- und Pressefotografen bedienen sich in aller Regel der technisch avanciertesten Kameras, die mit ihrer automatischen Fokussierung, der selbsttätigen Anpassung der Belichtung und den raschen Bildfolgen keinem Fotografen Misserfolge bescheren.
Die Abstraktion in Schwarzweiss
Barbara Klemm hat sich diesen Trends konsequent verweigert. Sie fotografiert bis heute analog und nimmt bewusst die damit verbundenen technischen Grenzen in Kauf. Sie verlässt sich ganz auf ihr Auge, das ohne die Waffen moderner Kameratechnik auskommt. Für den Betrachter bedeutet dies, dass er bei manchen Bildern einen Moment innehalten muss, bis sich ihm das Bild in seiner Kraft erschliesst.
Was macht das Auge des Betrachters inmitten weicher Konturen? Es schafft seine eigene Orientierung. Es wandert. Es wird nicht festgehalten wie von den schrillen Schärfen der heute technisch ausgereizten Fotografie. Dazu kommt die Abstraktion, die in der Beschränkung auf Schwarzweiss gesetzt ist. Die Bilder von Barbara Klemm erfordern mehr Zeit als der heutige Mainstream, aber es ist eine Zeit, die dem Betrachter von den Bildern geschenkt wird.
Barbara Klemm ist breite Anerkennung zuteil geworden. Ihre Bilder werden wieder und wieder in erstrangigen Museen weltweit gezeigt. Unvergessen ist die grosse Retrospektive im Martin-Gropius-Bau 2013 in Berlin, zu der Wim Wenders die Eröffnungsansprache hielt. Barbara Klemm wurde unter anderem mit dem Dr.-Erich-von-Salomon-Preis, dem Hessischen Kulturpreis, dem Leica Hall of Fame Award und dem Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. Seit 1992 ist sie Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. Im Jahre 2010 wurde sie in den „Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“ aufgenommen.
Blättert man durch den umfangreichen Band mit seinen drei thematischen Schwerpunkten, so tritt die ungeheure Vielseitigkeit Barbara Klemms hervor. Vom Porträt, über das Reportagefoto bis hin zur Street Photography, dazu Landschafts und Städtebilder: Ihr Reservoir ist unerschöpflich. Wo sie geht und steht, nimmt sie Dinge wahr, die ausser ihr wohl nur wenige sehen. Und immer wieder stösst man auf Fotos, die zeigen, wie sie in wenigen Sekundenbruchteilen den „entscheidenden Augenblick“ erfasst und trifft, wobei sie auch einen ausgeprägten Sinn für das Skurrile oder Witzige mancher Situationen hat.
Das gelingt ihr auch deshalb, weil sie eine dezente Beobachterin ist. Ganz anders als es heute oft üblich ist, spielt sie sich als Photographin nie in den Vordergrund. Von ihr gehen Stille und Konzentration aus – und Bescheidenheit. Sie steht ganz im Dienst ihrer Bilder.
Barbara Klemm, Zeiten Bilder, 212 Photographien aus den Jahren 1969 bis 2019. Mit einem Vorwort von Norbert Lammert und einem Text von Barbara Catoir, 288 Seiten, Schirmer/Mosel, München 2019, ca. 49,80 Euro