Ein paar Kilometer weiter rechts oder links, also nördlich oder südlich von seiner Route, hätten andere Begegnungen stattgefunden, wären andere Bilder entstanden. Diese Wanderung ist wie ein schmaler Schnitt, der durch Deutschland gelegt wurde. Rechts und links fehlt alles, aber dieser Schnitt ist wie ein gutes Präparat: aussagekräftig.
Anekdotische Bilder
Gebhardt übernachtete bei denjenigen, denen er begegnete, oder nutzte andere einfache Möglichkeiten. Er wollte möglichst wenig Distanz. Unmittelbarkeit und Spontaneität prägten seine Herangehensweise.
Das merkt man den Bildern an. Der Autor ist eigentlich professioneller Gestalter. Er studierte Grafikdesign, arbeitet als Fotograf für verschiedene angesehene Magazine und ist Professor für Bildjournalismus und dokumentarische Fotografie an der Fachhochschule Dortmund. Aber die Bilder sind bewusst anekdotisch und beiläufig gehalten. Da spürt man keinen grossen fotografischen Ehrgeiz.
Ganz im Gegenteil: Farben sind erstaunlich blass, um nicht zu sagen, matt. Schatten saufen ab; es herrscht ein merkwürdiges Dunkel. Hat Gebhardt bloss sein Handy gezückt? Aber warum erscheint dieses Buch im Verlag „Nimbus“, der für seine sorgfältig gestalteten Kunst- und Fotobände grösstes Renommee besitzt? Das ist verwirrend, und man darf vermuten, dass dahinter kluge Überlegungen stecken. Die muss der Leser aber selber enträtseln.
Pageturner
Oder auch nicht. Irgendetwas treibt einen an, immer weiter zu blättern, die Fotos zu betrachten und die kurzen Notizen Gebhardts zu lesen: ein Pageturner. Auch wenn sich das Konzept nicht auf den ersten Blick erschliesst, funktioniert es. Dirk Gebhardt sieht und beschreibt etwas von Deutschland, das einen bis zum Ende des Bandes nicht mehr loslässt.
Deutschland hat etwas Verlorenes. Fröhlichkeit gelingt nicht. Die Fotos von karnevalistischen Anwandlungen machen depressiv. Auch andere Feiern wirken gestelzt und verkrampft. Mit der „Gemütlichkeit“ ist es auch nicht weit her, und die Landschaften sind beschädigt. Vermeintliche Idyllen befinden sich in Auflösung. Ein Landarzt, den Gebhardt besucht, wird keinen Nachfolger mehr finden.
Gebhardt trifft auf Reste von religiösen Gemeinschaften, zum Beispiel einer Gruppe heimgekehrter Missionare, die in einem Kloster ihre letzten Lebensjahre verbringen. Das beobachtet Gebhardt im Westen. Im Osten stösst er auf Reste der untergegangenen DDR, was fast so trostlos wirkt, als würde sie noch fortbestehen.
Prosaisch statt hochgestimmt
Das Buch hat neben den kurzen Texten und Bildern von Dirk Gebhardt einige themenbezogene Statistiken. Ganz offensichtlich sollen sie dazu dienen, das Gezeigte in einen grösseren Rahmen zu stellen. So kommen Migranten ins Bild, und die dazu gehörige Statistik vermittelt einen Eindruck davon, wie stark Deutschland tatsächlich von Migration betroffen ist. Und wenn in Görlitz die Bahnhofsmission gezeigt wird, folgt eine Statistik zur „Armut und Vermögensverteilung“ in Deutschland.
Am Ende des Bandes angekommen, stellt sich immer noch die Frage, was Gebhardt bei der Gestaltung seiner Bilder umgetrieben hat. Vielleicht ist er in die Fussstapfen von Robert Frank getreten, der mit seinen bewusst prosaischen Bildern von Amerikanern in den 50er Jahren auf heftigste Kritik gestossen ist. Man kann auch an Jakob Holdt denken, der in den 70er Jahren mit seinen Fotos aus Amerika Furore machte. Auf jeden Fall zeigt Gebhardt ein Deutschland, das voller Nischen ist. Man kann darin leben, aber das Leben darin ist eher prosaisch als hochgestimmt.
Dirk Gebhardt: Quer durch. Deutschland von West nach Ost. 288 Seiten, Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2017, 32 Franken