Die Nachricht machte in aller Welt Schlagzeilen. Wer aber nach Beweisen für die Behauptung sucht, findet wenig Konkretes. Hillary Clinton verwies in ihrer Erklärung letzten Donnerstag auf entsprechende Erkenntnisse des internationalen Gerichtshofes in Den Haag und auf die Aussage einer Libyerin, die gegenüber CNN angegeben hat, sie sei von Milizionären Gaddafis vergewaltigt worden.
Der Chefankläger des Haager Gerichts, Luis Moreno Ocampo, hatte zuvor erklärt, er habe „Informationen“ über Massenvergewaltigungen der Soldaten Gadafis. Er zeigte sich überzeugt, dass Gaddafi persönlich die Vergewaltigungen befohlen habe, um seine Gegner zu strafen. Auch habe man „Berichte“ über Sex-Drogen wie Viagra, die Gaddafi containerweise beschaffe, um sie seinen Soldaten zu besagtem Zweck zu verabreichen.
Wenig Konkretes
Die Vergewaltigungs-Story erfährt eine geradezu rasende Proliferation. Eine Google-Suche mit dem Stichwort „Clinton Libya Rape“ zeigt am Sonntagabend, 18. Juni 2011, mehr als 21 Millionen Ergebnisse. Die Medien stürzen sich auf das Thema. Zahlreich sind die zitierten Quellen. Befragt werden Mitarbeiter von Hilfswerken, von Menschenrechtsgruppen, Spitalärzte u.s.w. Sie haben alle viel zum Thema zu sagen. Auffallend ist nur, dass es keine Fakten gibt, sondern bloss Vermutungen.
Da wird ausführlich erläutert, was eine Vergewaltigung in der arabischen Gesellschaft und für eine libysche Famile bedeutet, wie entsetzlich das Stigma für eine vergewaltigte Frau in Libyen ist. Doch die Kernaussage dieser Interviews heisst nicht: Massenvergewaltigungen sind geschehen, ich kann es bezeugen. Die Aussage heisst in alle Regel: Man hört immer wieder, dass dergleichen geschieht. Und man weiss ja, dass solche Dinge geschehen.
Ein Beispiel: Die Time-Reporterin Karen Leigh befragte Spitalärzte in der von den Aufständischen kontrollierten Stadt Benghasi. Die Ärzte, alle Mitte zwanzig, berichten stundenlang über vergewaltigte Frauen, zum Beispiel über jene 13-Jährige, die vor den Augen ihres Vaters vergewaltigt wurde und schrie: „Daddy, don’t look“, und viele andere Geschichten dieser Art. Doch dann fügt die Autorin mitten in ihrem Bericht zwei Sätze an: „But it’s only stories. The have never met a victim.“
Ein Fall gewöhnlicher Kriminalität
Die Ärzte in Benghasi haben eine Erklärung: Die Opfer der Vergewaltigungen würden die Tat lieber verschweigen, als ihre Familie in die soziale Verachtung zu bringen, die nach den sozialen Normen zwangsläufig die Folge wäre. Ein sicher ernst zu nehmendes Argument. Es erschwert zweifellos die Suche nach Beweisen.
Die Mehrheit der Presseartikel und Agenturmeldungen erwähnt den Fall der Libyerin Eman al-Obeidi. Die junge Frau verschaffte sich am 26. März mit brachialer Gewalt und unter lautem Schreien Zugang zum Hotel Rixos in Tripolis. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, dass sie drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und dann von einem Dutzend Männern vergewaltigt worden sei.
Nach einem Gerangel mit den Journalisten rissen Sicherheitskräfte die Frau in ein Taxi und fuhren sie weg. Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert oder psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.
Fragwürdiger Nutzen
Frau Obeidi, die sich zur Zeit in den USA aufhält, wurde in der Folge von CNN, vom britischen Sender Channel 4 und anderen Medien interviewt. Sie selbst sieht sich als ein Opfer politischer Verfolgung. Sie sei vergewaltigt worden, weil sie aus der östlichen Region stamme, die in Händen der Aufständischen sei. Das Regime habe sie dann zu einer öffentlichen Widerrufung zwingen wollen. Sie habe sich dem widersetzt. Frau Obeidi räumt indessen ein, dass Ärzte des Regimes sie untersucht und die Vergewaltigung bestätigt hätten. Ein Staatsanwalt habe ihr erklärt, die Täter würden bestraft. Tatsache ist, dass mehrere Männer in Tripolis in diesem Zusammenhang verhaftet wurden. Aussenministerin Hillary Clinton bezog sich in ihren Erklärungen namentlich auf den Fall Obeidi. Das Mindeste, was man bei nüchterner Betrachtung der Faktenlage sagen kann, ist, dass man aus diesem einen Fall nicht ableiten kann, dass das Regime Gaddafi Massenvergewaltigungen systematisch als „Waffe einsetzt“ – wie die Aussenministerin zu wissen glaubt.
Kenner der Lage in Libyen wie der Islamwissenschafter Reinhard Schulze halten folglich den Vorwurf, Gaddafi habe Massenvergewaltigungen befohlen, für unbewiesen und die Viagra-Story für „eher skurril". Es ist nicht einzusehen, welchen Nutzen der libysche Machthaber daraus ziehen sollte, Vergewaltigungen zu befehlen. Das wäre wohl das Dümmste, was er in seiner Lage machen könnte. Er würde inmitten eines Bürgerkrieges den Hass der Bevölkerung auf sich ziehen, die offensichtlich noch in Teilen auf seiner Seite steht.
Im Zwielicht der Propaganda
Amnesty International hat klargestellt, dass die Amnesty-Leute in Libyen über „keine konkreten Beweise“ für Massenvergewaltigungen verfügen. Ebenso lautet die Antwort von Human Rights Solidarity Libya, der libyschen Menschenrechs-Organisation in der Schweiz, die den Aufständischen nahesteht. Ihr Sprecher Giumma El Omami sagte mir am Telefon kurz und bündig: „Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Eman al-Obeidi.“
BBC-Korrespondent Andrew Harding hatte Ende Mai in der von Aufständischen kontrollierten Stadt Misrata Zugang zu zwei inhaftierten jungen Burschen, die angaben, sie hätten auf Befehl eines Offiziers Frauen einer Familie in Misrata vergewaltigt. Ihren Namen wollten sie nicht erwähnt haben, und Harding stellt an den Anfang seiner eigenen Story folgende Einschränkung:
„Ich lege Wert darauf festzustellen, dass es im klaren Interesse der Rebellen liegt, Gaddafis Soldaten im schlechtesten Licht darzustellen. Es ist ausserdem möglich, dass die Befragten gezwungen wurden, Lügen zu erzählen. Und es ist ein grosser Unterschied zwischen individuellen Gewaltakten in Kriegszeiten und einer systematischen Kampagne gegen Zivilpersonen.“ Klarer kann man es kaum sagen. Fazit: Je länger man der Sache nachgeht, umso dringender wird der Verdacht, dass die Vergewaltigungs-Story im zwielichtigen Bereich der Propaganda angesiedelt ist.
Die Mär von den Babymorden
Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst. Die Verbreitung von Horror-Stories dient dem Zweck, den Feind zu einem Monster zu machen, was wiederum nützlich sein kann, um dem eigenen Handeln die nötige Legitimität zu verschaffen. Die Beispiele für solches „atrocity management“ sind zahllos. Vor dem Einmarsch im Irak etwa wurde von der amerikanischen Regierung die Story ventiliert, die Soldaten Saddam Husseins hätten die Gepflogenheit, in Spitälern im besetzten Kuwait Babies zu töten, indem sie Sauerstoff-Schläuche aus den Brutkästen Neugeborener reissen würden.
Die „Pflegerin Najirah“ präsentierte die Brutkasten-Story unter Tränen vor dem Menschenrechts-Ausschuss des US-Kongresses. Die Fernsehbilder gingen um die Welt. Najirah war in Wirklichkeit die Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, und die erlogene Story war von der PR-Agentur Hill & Knowlton (H&K) zusammengebastelt worden. Saddam Hussein –über Jahrzehnte in Washington als guter Freund angesehen – wurde durch solche Falschinformationen und die notorischen „Erkenntnisse westlicher Geheimdienste“ plötzlich zum Monster. So konnte der Angriff auf den Irak leichter gerechtfertigt werden.
Sackgasse Libyen
Die Strategie der Massenvergewaltigung wäre ein monströses Verbrechen, und wenn Gaddaffi sich dessen schuldig gemacht hätte, wäre es für die NATO bedeutend leichter, die wachsende Frustration in den eigenen Reihen zu überbrücken und die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die die täglichen Bombardierungen von Tripolis anprangern. Libyen ist für die NATO zur Sackgasse geworden.
Auch für Präsident Obama kommt die Massenvergewaltigungs-Story mit einem auffallend günstigen Zeitpunkt. Sie lenkt ab von seinem Zwist mit einem Kongress, der ihm die Finanzierung des Libyen-Einsatzes mit der Begründung verweigern will, der Präsident habe gegen die War Powers Resolution verstossen, weil er den Einsatz befahl, ohne vom Kongress ermächtigt zu sein.
In einem Interview mit der NZZ (1.März 2011) blickt Carla Del Ponte zurück auf ihre Arbeit als Chef-Anklägerin am Internationalen Gericht in Den Haag. Dabei macht sie die erstaunliche Bemerkung, dass sie damals bei der Aufklärung von Verbrechen durch mächtige politische Interessen behindert wurde. Auf die Frage, um welche Verbrechen es gehe, antwortet del Ponte:
„Die NATO-Angriffe in Serbien. Wir hatten ermittelt, wurden aber dann gestoppt, denn die NATO wollte nicht kooperieren. Wir hatten darüber einen Bericht veröffentlicht, ohne dass sich die internationale Gemeinschaft gross aufgeregt hätte.“
Opfer "auf der falschen Seite"
Und in Bezug auf Verbrechen der kosovarischen UCK sagt Del Ponte: "Die NATO kooperierte während des Konfliktes mit der UCK. Ich sprach darüber (über Verbrechen der UCK, Red.) mit dem damaligen NATO-General in Kosovo, aber er hat mir den Zugang zu den Dokumenten nicht erlaubt."
Der derzeitige Chefankläger Luis Moreno Ocampo schloss seine Enthüllungen über Gaddafis angebliche Massen- Vergewaltigungen mit dem beiläufigen Satz. „Wir sammeln noch Beweise.“
Man kann nur hoffen, dass Ocampo keine Beweise von der Art sammelt, wie sie die „Krankenschwester Najirah“ vorlegte. Und dass der Mann bei seinen Ermittlungen nicht ebenso am Gängelband der NATO geführt wird, wie es Carla de Ponte offenbar erfahren musste.
Vielleicht sollte Ocampo sich weniger auf die angeblichen Viagra-Projekte des Obersten Gaddafi konzentrieren als auf die Opfer der NATO-Bombardements. Mehr als zehntausend Einsätze haben die Kampfjets seit Kriegsbeginn geflogen. Man kann sich ausrechnen, wieviel Bomben und Raketen auf Tripolis und andere Städte niedergegangen sind. Die Opfer, die in diesem Konflikt „auf der falschen Seite“ stehen, kommen in den Medien fast nicht vor. Sie sind auf eine merkwürdige Weise inexistent. So als seien die Angriffe selbst eine Art Hightech-Videogame ohne Bezug zur Realität.