Mit dem Traum fallender Mauern und der Utopie unbeschränkter Möglichkeiten sind die Industriestaaten des Westens ins postindustrielle Zeitalter aufgebrochen. Doch jetzt klaffen auf einmal Gräben im Inneren auf. Die gewonnenen Freiheiten zeitigen einen Rückstosseffekt, der zu neuen Ausschliessungen führt.
Der Wegfall von Zulassungsbeschränkungen hat den Wettbewerbsdruck für alle verschärft, die entfesselte Pluralität gemeinsame Orientierungen zersetzt und über dem Tempo des Umbruchs geraten immer weitere Schichten ins Hintertreffen. Mehr und mehr Billy Fosters fallen an, restlos desillusionierte Bürger, die sich von den Eliten übers Ohr gehauen fühlen. Statt allerdings individuell auszurasten, sammeln sie sich in den populistischen Bewegungen.
Populistische Manifestationen mögen abstossend wirken, da Trotz immer auch Fratzen hervortreibt, aber das Ressentiment hat eine sehr reale Grundlage. Menschen, die eben noch etabliert waren, werden vom Tempo des Wandels überfahren, fallen wirtschaftlich zurück und sehen sich zuletzt auch kulturell ausgebürgert. Kein Wunder, wollen sie – wie Bill – nach Hause: zurück in ein Gestern, wo ihnen alles noch heil schien.
Migranten als Sündenböcke
Es erstaunt auch nicht, dass das Phänomen der Migration zum Kondensationskern des populistischen Protests wurde. Die Fremden, die scheinbar unaufhaltsam ins Land strömen und den Konkurrenzdruck verstärken, geben dem schmerzhaften Umbruch ein Gesicht. Und sie sind wenigstens fassbar. Ihnen kann man allenfalls noch die Tür vor der Nase zuschlagen, während immer mehr existenzielle Entscheide der demokratischen Mitbestimmung entzogen bleiben.
Hinzu kommt ein Zweites: In gewisser Weise bilden die Fremden das Negativ der eigenen Existenz, ein Spiegelbild, das man lieber nicht sehen möchte. Heimatlos geworden, sind auch sie Treibsand unter den rasch wechselnden Winden der Märkte. So speist sich der Hass, mit dem ihnen viele Absteiger begegnen, nicht zuletzt aus ohnmächtiger Wut über die eigene Entfremdung.
Bürgerliche Identifikationen
Die Fraktion der gefühlten Verlierer ist seit der Finanzkrise mächtig angewachsen. Angesichts einer solchen Erosion der Mittelschicht stellt sich aber schon die Frage, warum nicht die Linke an Gewicht zugelegt hat. Was hindert den Haufen der Unzufriedenen, entschieden eine wirtschafts- wie gesellschaftspolitische Neuorientierung einzufordern, einen New Deal quasi, der ihren Abstieg bremst?
Die Antwort liegt zum einen in ihrem Selbstverständnis begründet, zum andern aber auch in einer zunehmenden Selbstbezüglichkeit der linken Vision. Ein Bill Foster dürfte in den USA zuletzt kaum demokratisch gewählt haben. Er fühlt sich der Tradition und seiner angestammten Gemeinschaft verpflichtet, für ihn muss Leistung sich lohnen und die liberale Eigentumsordnung ist ihm heilig. Er möchte sich weiterhin als Angehöriger des Mittelstands verstehen, wo man den Rang seiner Hände Arbeit verdankt. Jeder ist seines Glückes Schmied – aus dieser bürgerlich-konservativen Optik heraus misstraut einer wie Bill behördlichen Eingriffen generell und staatlicher Umverteilung im Besonderen, weil sie angeblich die Trägen belohnt und somit falsche Anreize setzt.
Schon die klassische keynesianische Sozialpolitik ist ihm suspekt. Mehr noch ist es die Akzentuierung, welche linke Politik im Nachgang zu Achtundsechzig genommen hat, nämlich deren ausgeprägte Sympathie für das Abweichende und für Minderheiten an der Peripherie. Die Bill Fosters unserer Tage können dem linken Kulturliberalismus nichts abgewinnen. Sie verstehen beispielsweise nicht, wieso sie unkonventionelle oder alternative Milieus subventionieren sollen, mit denen sie gar nichts am Hut haben. Erst recht alarmiert sind sie bei der Vorstellung von Fremden, die sich in den Nischen des Sozialstaats einnisten und auf ihre Kosten leben wollen.
Selbstbezüglichkeit der Linken
Aus der Sicht heutiger Modernisierungsverlierer hat die Linke das Patronat für Ideen und Gruppen übernommen, zu denen sie selbst ein – gelinde gesagt – angespanntes Verhältnis haben. Von daher erstaunt es nicht, dass sie sich von dieser Seite des politischen Spektrums nicht repräsentiert sehen. Vom Programm der grossen Inklusion fühlen sie sich ausgeschlossen, vor allem von dessen radikalisierter Form, die sich nach Achtundsechzig durchgesetzt hat.
Damals waren die Arbeiter materiell wie ideologisch in die bürgerliche Gesellschaft integriert, die alten Forderungen der Sozialdemokratie also erfüllt und der Klassenkampf offiziell abgesagt. Unter diesen Umständen brauchte die Neue Linke eine frische Klientel, mit der sie sich solidarisch zeigen konnte. Die fand sie zum einen in der Dritten Welt, zum andern an den Rändern der Gesellschaft, in un- bis antibürgerlichen Soziotopen. Zu den alten Genossen hingegen ging sie auf Abstand, weil die sich mit Kleinwagen, Fernseher und drei Wochen Ferien behaglich im Kapitalismus eingerichtet hatten.
Nachdem der Linken das Proletariat abhandengekommen war, fand sie neue revolutionäre Subjekte an der Peripherie und erwartete das Heil von deren Andersheit. In diesem Kult der Alterität und der Aversion gegen das Bürgerlich-Spiessige ist der Post-Achtundsechzig-Mainstream im Wesentlichen steckengeblieben, und das verschreckt die abstiegsbedrohten Bürger der Gegenwart nachhaltig. Soziologisch betrachtet sind sie die Nachkömmlinge jener Arbeiter, die spätestens in den Sechzigern in der Mittelschicht ankamen und sich mit deren Werthaltungen identifizierten. Ihnen erscheint der forcierte Kulturliberalismus der Linken abgehoben – und vor allem untauglich, die Prekarisierung zu artikulieren, die ihnen droht.
Beisshemmung gegen das liberale Wirtschaftskonzept
Bill Foster wäre aber auch der andern Fraktion der Modernisten nicht grün: den Wirtschaftsliberalen. Ihn würde mit Sicherheit die Hire-and-Fire-Mentalität erbittern, welche diese durchgesetzt haben, ebenso das Niveau der Saläre, die in der Belétage gezahlt werden. Und in den Bankenrettungen würde er vermutlich ein Zeichen dafür erkennen, dass die Reichen den Staat gekapert haben.
Dennoch dürfte sein Widerstand gegen diese Seite gehemmt sein, weil ihn mit den Anhängern der Wirtschaftsfreiheit der eine oder andere gemeinsame Nenner verbindet: seine technokratische Grundeinstellung etwa, nicht weniger die ausgeprägte Leistungsorientierung, zuletzt und vor allem jedoch das Eingeschworensein auf die bürgerliche Eigentumsordnung.
Bill könnte weder griffigeren Steuergesetzen leichten Herzens zustimmen noch schärferen Bankenregulierungen; er steht zu den liberalen Grundspielregeln, auch wenn die ihn aktuell krass benachteiligen. Genau das aber lähmt ihn politisch, macht ihn unfähig, seine Frustration in die Forderung nach einem grundsätzlichen Wandel umzumünzen – und damit anfällig für die Ressentiment-Bewirtschaftung durch national-konservative oder populistische Kreise.
Die Tragik der kleinbürgerlichen Absteiger besteht darin, dass ihnen ihre Identifikationen die Aussicht auf politische Alternativen verstellen. Damit sind sie zur Ohnmacht verdammt. Ihre Wut wird richtungslos und sucht zuletzt Abfuhr in reflexhaften Ausschliessungen. Deshalb sind sie eine leichte Beute für die Rechten, welche den seltsamen Spagat zwischen spätmodernem Wirtschaftsliberalismus und einem nostalgischen Moralismus hinkriegen. Diese Rechte verspricht den Bären zu waschen, ohne ihm den Pelz nass zu machen. Sie bedient rückwärtsgewandte Sehnsüchte unter Verleugnung der Tatsache, dass diese sich unter den herrschenden Bedingungen niemals werden realisieren lassen.
Ziellose Revolte
Die Spaltungsdynamik, welche durch den entfesselten Wettbewerb losgetreten wurde, erzeugt eine soziale Schicht, der unzweifelhaft revolutionäre Sprengkraft zukommt. Doch in ihrem Selbstverständnis sehen sich die Betroffenen grösstenteils als integralen Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Sie nehmen ihre Marginalisierung sehr wohl wahr, gestehen sich aber ihre Lage nicht wirklich ein. Deshalb können sie sich auch nicht zu einer systemkritischen Distanz durchringen.
Anstatt auf dem Feld der Politik gegen die wirtschaftlichen Spielregeln anzugehen, die der Grund ihres Elends sind, verbeissen sie sich in die Abwehr gegen andere ausgegrenzte Minderheiten. Auf Bill muss die linke Vision von deren Gleichstellung wie ein rotes Tuch wirken – angesichts des Umstandes, dass er jetzt selbst vor dem freien Fall steht! Das pointiert kulturliberale Programm, in dem die Pflege alternativer Lebenspläne und Gruppenidentitäten einen zentralen Platz einnimmt, bietet ihm nicht die geringste Identifikationsgrundlage.
In der Tat hat die Linke den Draht zu ihrer ursprünglichen Klientel definitiv gekappt. Sie versuchte auch nicht, ihn wieder aufzunehmen, als sich der wirtschaftliche Abstieg der unteren Mittelschicht abzuzeichnen begann. Für einen wie Bill Foster bewegt sich linkes Denken deshalb in einer Blase; es hat den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit verloren und hätschelt bloss noch die eigene idealisierte Identität, indem es um ihre Identität kämpfende Positionen moralistisch abwehrt. Ganz abgesehen davon hat Bill auch mitgekriegt, dass der Realo-Flügel zwischenzeitlich munter das Geschäft der Wirtschaftsliberalen betrieben hat.
Gefangen im Status Quo
Potentiale, welche das System aufsprengen könnten, sind durchaus da. Aber sie neutralisieren sich in endlosen Grabenkämpfen entlang der Fronten eines Krieges, der längst überholt schien. Die Migrationsbewegungen haben den alten Kulturkampf zwischen einer konservativ-bürgerlichen und einer links-alternativen Sicht wieder voll aufflammen lassen: Behauptung von traditionsgebundener Eigenheit steht gegen Toleranz dem Fremden gegenüber, das Beharren auf einer Leitkultur kollidiert mit der Forderung nach Minderheitenschutz.
Völlig aus dem Blick gerät dabei das Gewicht der ökonomischen Ordnung. So sind denn die Wirtschaftsliberalen die lachenden Dritten, weil ihr Programm die Realität schon längst bestimmt. Linke und Rechte leisten sich den Luxus einer fast schon rituellen weltanschaulichen Auseinandersetzung, bei der beide Parteien auf längst festgefahrenen Positionen verharren und damit die Politik blockieren. Dies zementiert einen Status Quo, der gekennzeichnet ist durch schleppendes Wachstum und eine immer tiefere gesellschaftliche Spaltung.
Es wäre leicht, die destruktiv bockenden Absteiger für diesen Stillstand verantwortlich zu machen. Immerhin sind sie es, die ausdrücklich rückwärtsgewandte Konzepte hochhalten. Doch die Eliten, die wirtschafts- wie die kulturliberalen, haben durchaus ihren Anteil an der Blockade. Beide bleiben fixiert auf ihre Utopien, die längst ihre Unschuld verloren haben. Kaum jemand zeigt Einsicht in die fatalen Folgen der grossen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Öffnung, welche die ursprünglichen Freiheitsversprechen diskreditieren. Die Modernisierungsverlierer mögen traditionalistischen Ideen anhängen und sich in überholte Identitäten verbeissen, aber ihre Verhärtung ist letztlich nur der Schatten einer geistigen Starre, der auch die Eliten verfallen sind.