Die Passionskompositionen des Leipziger Thomaskantors gehören seit der Wiederentdeckung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohns Aufführung von 1829 zur abendländischen Ostertradition. In Kirchen und Konzertsälen erklingen jedes Jahr Hunderte von Aufführungen. Eine davon fand am Karsamstag in der ausverkauften Zürcher Tonhalle statt. Philippe Herreweghe erwies Bachs Johannespassion mit seinem Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent die Ehre einer denkwürdigen Darbietung.
Momente der absoluten Präsenz
Herreweghe, ein Vertreter der sogenannten historischen Aufführungspraxis, zählt seit Jahrzehnten zu den eminentesten Bach-Interpreten. Das von ihm 1970 gegründete Collegium Vocale Gent demonstrierte in der Tonhalle, weshalb es den Ruf eines internationalen Spitzen-Ensembles geniesst. Eine packendere, lebendigere, differenziertere und präzisere Interpretation der grossen und technisch anspruchsvollen Musik kann man sich kaum vorstellen. Von den Solisten beeindruckten besonders die Tenöre Thomas Hobbs, der den gewichtigen Part des Evangelisten geschmeidig und klangschön gestaltete, und Tobias Hunger, der in den Tenor-Arien in einer Weise über sich hinauswuchs, dass Aufführende und Zuhörende sich in Momenten der absoluten Präsenz zusammenfanden.
Von exaltierten Moden, die sich bei manchen Dogmatikern des historischen Musizierens festgesetzt haben wie überartikulierte Rhetorik oder exzessive Tempi fehlt bei Herreweghe jede Spur. Zwar liess er die Exklamationen des aufgehetzten Volks in den Gerichtsszenen bei Pilatus heftig und rasant singen, doch Chor und Orchester stiessen nie an technische Grenzen. Herreweghe hob die Ecken und Kanten des Werks deutlich hervor, gab aber genauso auch den fliessenden Melodien und überwältigenden harmonischen Bewegungen ihr Recht. Die Darbietung blieb selbst bei komplexen Stimmenführungen und kraftvollen Tutti vollkommen transparent und durchhörbar.
Ein Fragezeichen kann man setzen bei der fast kompletten Ersetzung weiblicher Altstimmen durch Männer-Alti. Der Solopart und drei von vier Altstimmen im Chor waren männlich besetzt. Historische Gründe hin oder her: Eine gute Altistin ist einem noch so versierten Altus an stimmlicher Differenziertheit und Wärme derart weit voraus, dass es keine ästhetischen Gründe gibt, hier die Frauen mehr und mehr zurückzudrängen. Schliesslich hat man ja die Sopranistinnen auch nicht durch Knabensoprane ersetzt, obschon auch dies historisch zu begründen wäre.
Der Wermutstropfen hinsichtlich Besetzung tat aber dem grandiosen Gesamteindruck keinen Abbruch. Herreweghe hat die Johannespassion künstlerisch schlüssig und auf höchstmöglichem Niveau präsentiert und so eine unvergessliche Begegnung mit diesem epochalen Werk ermöglicht.
Wie ein Komet eingeschlagen
Als am Karfreitag, 7. April 1724 in der Nicolaikirche zu Leipzig die Johannespassion zum ersten Mal aufgeführt wurde, war dies ein Meilenstein im Schaffen des Thomaskantors Johann Sebastian Bach und damit auch in der Entwicklung der abendländischen Musik. Nicht die Idee einer musikalischen Gestaltung des Passionszyklus war neu, wohl aber die Art, wie dies hier geschah: Bach schuf ein durchkomponiertes Werk mit einer musikalischen Architektur, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Die Handlung folgt der biblischen Passionserzählung, hier in der Version des Johannesevangeliums.
Die Texte der vom Evangelisten solistisch dargebotenen Rezitative sowie der das agierende Volk darstellenden Turba-Chorpartien sind der Luther-Übersetzung entnommen. Sie folgen dem johanneischen Bericht über Gefangennahme, Verhör, Verurteilung, Folterung, Kreuzigung und Sterben Jesu. In diesen zentralen Strang sind Choräle eingefügt, die Bach aus dem Schatz des evangelischen Kirchengesangs übernahm und mit kunstvollem Tonsatz als Momente gläubiger Betrachtung heraushob. Mit den zehn Arien, deren Texte aus barocken Quellen religiöser Lyrik übernommenen sind, stellt Bach dem dramatischen Geschehen die fromme Verinnerlichung gegenüber. Auf der Grundlage dieses Materials hat Bach nicht nur etwas völlig Neues, sondern eines der überragenden Werke der abendländischen Kultur geschaffen. «Von ihrer historischen und ästhetischen Bedeutung her gesehen schlägt die Johannespassion wie ein Komet ein,» schreibt der Bach-Forscher Martin Geck.
Bach hat insgesamt fünf Passionen geschrieben; überliefert sind die Johannes- und die Matthäuspassion (1727). Beide Werke hat er mehrfach überarbeitet. Von der Johannespassion sind fünf Versionen bekannt, von der jedoch keine vollständig erhalten und abgeschlossen ist. Wir haben es mit einer unvollendeten Komposition zu tun, bei der die Aufführenden stets vor der Entscheidung stehen, aus welchen Fassungen sie den Notentext zusammensetzen sollen. So fehlt etwa der berühmte Eingangschor «Herr, unser Herrscher» in der gelegentlich aufgeführten zweiten Fassung von 1725. – Es ist Herreweghe zu danken, dass er dem Tonhallenpublikum dieses monumentale Stück gegönnt hat.
Komponierender Theologe
Schon mit diesem Eingangschor nämlich macht Bach klar, was die Zuhörenden erwartet: eine gleichermassen emotional ergreifende und gedanklich durchgeformte Musik. Bis zu Mozarts letztem Werk, dem Requiem (KV 626) von 1791, ist keine Komposition von vergleichbarer musikalischer Dichte und dramatischer Bewegtheit mehr entstanden. Das «Herr, unser Herrscher» signalisiert den Kometeneinschlag, von dem Geck spricht.
Es ist aber auch thematisch als Eröffnung einer Passion aussergewöhnlich. Bach zeigt damit sein fundiertes theologisches Verständnis. Die Erzählung vom Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth unter das Vorzeichen einer Hymne auf Christus als den Weltenherrscher zu stellen, ist ein Paradox, das genau auf der Linie des Johannesevangeliums liegt. Anders als in den textlich eng zusammengehörenden Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas erscheint in diesem vierten Evangelienbuch des Neuen Testaments die Gestalt des Jesus in einer konsequenten lehrmässigen Beleuchtung. Jesus redet und handelt bei Johannes durchwegs im Bewusstsein seiner göttlichen Herkunft und seines messianischen Auftrags. Auf seinem Todesweg ist er nicht sosehr der Leidende, sondern der Souveräne. Anders als etwa bei Markus versucht Jesus in der Johannes-Darstellung keineswegs, dem Leiden zu entgehen, und er verzweifelt auch am Kreuz nicht. Er ist, so das Johannesevangelium, in allem «der Herr», als den ihn Bach im Eingangschor besingen lässt.
Die ersten achtzehn Takte der Orchestereinleitung zu dieser ersten Nummer sind programmatisch. Sie sind ein symbolischer Ausdruck der Trinität. «Für die Vorstellung von Gott Vater steht das Bassfundament; an die Leiden des Gottessohnes gemahnen die oft auf betontem Taktteil dissonierenden, zum Teil streng kanonisch geführten Holzbläser mit ihren ‚Schmerzintervallen’ (...); das Wehen des Heiligen Geistes wird durch die wogenden Bewegungen der Streicher versinnbildlicht.» (Geck)
Schwer und düster?
Im Unterschied zu der heute in der Wissenschaft, bei den praktizierenden Musikern und beim Publikum herrschenden unbedingten Bewunderung beurteilte der Musikwissenschafter und Bach-Biograph Philipp Spitta (1841-1894) die Johannespassion kritisch. Mit den Arientexten werde man zuweilen «hart an die Gränze des blühenden Unsinns geführt», befand er. Auch der Aufbau des Werks erschien ihm nicht schlüssig. Spitta sah darin auch den Grund der mehrfachen Bearbeitung durch Bach. Den minderen Rang gegenüber der Matthäuspassion führte Spitta aber letztlich auf die nach seiner Meinung «literarische Dürftigkeit» des Johannesevangeliums zurück, das es gegenüber den ersten drei Evangelien an sinnlich-farbigen Elementen fehlen lasse: kein Abendmahl Jesu mit den Jüngern, keine nächtliche Anfechtung Jesu im Garten Gethsemane, keine Naturphänomene – Sonnenfinsternis und Erdbeben – beim Sterben Jesu (das in der Johannespassion besungene Erdbeben entlehnte Bach bezeichnenderweise bei den anderen Evangelien).
Spitta hat zweifellos richtig beobachtet. Er hält zudem fest, Bach habe die Schwächen der Vorlage musikalisch kompensiert, so etwa durch die Dramatik der Chorpartien: «Polyphonie von seltener Dichtigkeit und ein gewisses compactes Wesen» wiesen sie auf, und weiter meint er: «Diese grossen Formen, die mit bedeutendem musikalischem Inhalt bis zum Zerspringen gefüllt sind, bezeugen eine imponirende Schöpferkraft, haben aber auch etwas unheimliches und schwüles.» Die Sologesänge gehören für Spitta «zu den vorzüglichsten, die Bach geschrieben,» scheinen ihm aber insgesamt «schwer und düster».
Oder eher herb und modern?
Was Spitta als Zeitgenosse der romantischen Musik als schwer, düster und geradezu abweisend empfand, macht die Johannespassion für ein heutiges Publikum dramatisch, dicht und herb. So wie im Johannesevangelium die Passion ganz im Licht der Auferstehungsbotschaft gezeigt wird, das heisst als Sieg des Leidenden über die Gewalt und entsprechend die Christusgestalt als königliche, immer über dem Geschehen stehende Figur, so fällt auch bei Bach stets beides ineins: bewegte Klage und souveräne Überwindung von Leiden und Tod. Der Eingangschoral setzt schon in aller Klarheit diesen Deutungshorizont. In der johanneischen Sicht spielt das erzählte Drama der Passion eine eher untergeordnete Rolle, weil es darum geht, ein paradoxes Bild zu zeigen, ein Ineinander von Dunkel und Licht. Johannes ist derjenige Autor im Neuen Testament, der quasi in allem stets schon das triumphale Ende vorwegnimmt und in jedem Teil der Jesusgeschichte den zum Herrscher erhöhten Jesus wiederfindet.
Im johanneischen Paradox überlagern sich das Geschichtliche und das Übergeschichtliche. Bach deutet diese gedankliche Konstruktion musikalisch: So wie der geschundene und getötete Jesus der herrschende Gottessohn ist, verschmilzt der Ausdruck des Leidens mit dem des Triumphs. Musikalische Figuren des Schmerzes und der Trauer sind in der Johannespassion aufs Engste verwoben mit solchen der Erhebung. Und das musikalisch Strahlende bleibt immer zurückgebunden an den tiefen Ernst der Passion. Dies begründet die «Kompaktheit» und «Düsternis», die Spitta als Mangel beklagte. Man kann ihm für seine feine Wahrnehmung danken. Denn was dem Romantiker wehtat, bringt Bachs Musik uns modernen Hörern vermutlich erst recht nahe.