Politik ist die gezielte Ausblendung störender Wirklichkeit. Mit der früheren „Kunst des Möglichen“ hat das absolut nichts mehr zu tun. Denn in der plebiszitären Politik geht es nur noch um die kleinsten Nenner, die jeder versteht. Damit wird gepunktet. Alles, was stören könnte, muss herausgekürzt werden, um Wahlen zu gewinnen.
Störende Realität
Wie wirklich ist ein Flüchtling, der gar nicht erst ankommt? Er ist wohltuend irreal, weil er nicht stört. Wenn er zusammen mit vielen anderen ertrunken ist, kann man ihn gelegentlich öffentlich betrauern: „So etwas darf sich nicht wiederholen.“ Aber ein ankommender Flüchtling ist ein Problem: Wohin mit ihm? Das „gemeinsame europäische Haus“ hat erstaunlich wenig Platz. Und wetterfest ist es auch nicht.
Navid Kermani kann als Schriftsteller kulturell aus dem Vollen schöpfen. Seine Eltern sind 1959 aus Iran nach Deutschland eingewandert. Er kam 1967 in Siegen zur Welt. Sein Vater war Arzt, seine drei Brüder sind ebenfalls Mediziner. Er selbst studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft. Im Fach Orientalistik habilitierte er sich mit der Schrift „Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“ . Seine Frau Katajun Amirpur ist Islamwissenschaftlerin. Schon recht früh erhielt Kermani Stipendien, Auszeichnungen und Preise – zuletzt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015. Navid Kermani ist ein Glücksfall für das kulturelle Leben Deutschlands, der ohne die Zuwanderung nicht möglich wäre.
Einbruch der Wirklichkeit
Und sein Blick ist scharf. Ob er über Religion schreibt – Islam oder das Christentum –, Kultur oder Politik, so fördert sein Blick immer etwas zutage, was bis dahin unbeachtet geblieben ist. Sein Buch über das Christentum, „Ungläubiges Staunen“, erschien 2015 und liegt jetzt in der 9. Auflage vor. Als der „Spiegel“ ihn zusammen mit dem Magnum-Fotografen Moises Saman vom 24. September bis 2. Oktober 2015 auf die Reise von Budapest nach Izmir geschickt hat, um aus der Gegenrichtung kommend über die Flüchtlinge zu berichten, da konnte er sicher sein, dass das ungläubige Staunen Kermanis der realistischere Blick ist. – Aus dieser Reportage ist das vorliegende Buch entstanden.
Was ist nun die Realität? Sie besteht in einer „Dramatik, an Leid, an Gewalt, die kein westeuropäisches Leben mehr bereit hält“. Dazu gehören „Gekreuzigte, die tagelang zur Schau gestellt“ werden. Fazit: „Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote: Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewusstsein.“
Das Leben in Blasen
Härter geht es nicht. Denn im Klartext sagt uns Kermani, dass das, was wir für unsere Realität halten, surreal ist. Unsere Realität ist eine Insel der Seligen in einem Meer von Unglück. Das, was wir der Vergangenheit überantworten wollten – Genozide, Folter, Willkür von staatlichen Organen, fanatisierter Pöbel und kühl kalkulierende Verbrecher und Gewaltunternehmer auf regionalen und internationalen Ebenen – ist zur eigentlichen Realität geworden. Der Traum vom „Ende der Geschichte“ dank des Sieges der Demokratie nach westlichem Vorbild ist eine Seifenblase – genau wie der Kokon unseres Lebens.
Es hat nichts mit Moral zu tun, sich dieses klarzumachen. Die Flüchtlinge konfrontieren uns mit einer Wirklichkeit, die wir für überwunden hielten und von der wir nicht belästigt werden möchten. Das ist die Stunde der Augen-zu-Politiker. Mit den Flüchtlingen möchten sie deren Wirklichkeit abschieben.
Harte Auslese
Kermani hat mit vielen Flüchtlingen gesprochen, dabei ihr Leid an sich herankommen lassen, und der Fotograf Moises Saman hat Bilder in einer stillen und eindrücklichen Empathie gemacht. Man muss dieses Buch lesen und sich die Bilder vor Augen führen. Patente Resümees verbieten sich. Denn Kermani zeigt anhand seiner zahlreichen Beobachtungen, wie unsicher unser Blick auf die Wirklichkeit ist. Er beschreibt Flüchtlinge, die ein mittelständisches Leben geführt haben, also sich von gut situierten Europäern nicht unterscheiden. Dann kam der „Islamische Staat“, und ihnen blieb nur noch die Flucht.
Kermani beschreibt die unendlichen Strapazen der Flucht: die Lebensgefahr bei der Überfahrt, die Stürme und meterhohen Wellen, Hunger, Kälte, Fussmärsche. Wer, so fragt er, setzt sich dem aus und wer überlebt das? Es sind überwiegend vitale junge Männer, die, wie er an einer Stelle sarkastisch anmerkt, nicht unbedingt dem Bild entsprechen, das sich hierzulande die Integrations- und Arbeitsmarktenthusiasten ausmalen. Die illegalen Fluchtwege begünstigen also eine Auslese, die hierzulande als problematisch empfunden wird.
Trügerische Hoffnungen
Insbesondere Viktor Orbán und der regierenden Fidesz-Partei wirft Navid Kermani vor, durch die Verweigerung von Aufenthaltsräumen mit entsprechenden hygienischen Einrichtungen dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge mit ihrem stinkenden Elend in der Bevölkerung Ekelgefühle hervorrufen. Die Herabwürdigung der Flüchtlinge ist Teil einer politischen Strategie, um die Ablehnung in der Bevölkerung zu steigern.
Umgekehrt habe Deutschland mit den Bildern von der „Willkommenskultur“ und den Bildern der Kanzlerin, umringt von begeisterten Flüchtlingen, falsche Hoffnungen geweckt. Diese Bilder, so stellt Kermani fest, seien „so nicht gemeint“ gewesen. Sie hätten eine fatale „stille Post“ in Gang gesetzt.
Traurige Gewissheit
Aber gibt es nicht eine grosse Hilfsbereitschaft? Navid Kermani betont immer wieder das Engagement zahlloser Helferinnen und Helfer in Deutschland, das tatsächlich eine neue Wirklichkeit schafft. Da gibt es eine Vitalität der Hilfe, die eine adäquate Reaktion auf den „Einbruch der Wirklichkeit“ ist. Aber es gibt auch ganz andere Seiten. An den Küsten von Lesbos zum Beispiel drängen sich die Helfer, weil sie offenbar ganz auf den Kick der Begrüssung bei der Ankunft der Migranten aus sind. Im Hinterland, so Kermani, wo es um die mühselige Kleinarbeit im täglichen Alltag geht, sucht man vergebens nach freiwilligen Helfern.
Und dann gibt es noch die schöne Frage: Welcher Fotograf schiesst das beeindruckendste Bild, welcher Helfer vollbringt die tollste Tat? Kermani schreibt, er habe entgegen zahlreichen Presseberichten nie erlebt, dass sich Flüchtlinge, egal welcher Herkunft, geprügelt hätten. Aber er hat eine Schlägerei zwischen einem Fotografen und einem Helfer erlebt, weil die sich gegenseitig die besten Plätze weggenommen haben.
Folgt man dem Blick Navid Kermanis, gibt es nur die traurige Gewissheit, dass der „Einbruch der Wirklichkeit“ weitaus dramatischer ist, als unsere Politiker und wir wahrhaben wollen. Vielleicht erklären eines Tages Ethnologen die blinden Flecke, die die Europäer daran gehindert haben, sich auf eine neue Wirklichkeit einzustellen.
Navid Kermani, Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Fotos von Moises Saman, 96 Seiten mit 12 Fotos und einer Karte, Verlag C. H. Beck, München 2016