At-Tanf liegt tief in der Wüste an der syrischen Südostgrenze zum Irak. Etwas weiter südlich liegt das Dreiländereck, wo Syrien, der Irak und Jordanien aneinandergrenzen.
Die amerikanischen und die britischen Sondertruppen betreiben dort ein Ausbildungslager für syrische Rebellenkämpfer. Diese sollen, wenn alles gut geht, in den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) eingreifen. Von at-Tanf aus würden sie, falls die geplante Offensive zustande kommt, Richtung Euphrat auf die Provinz Deir az-Zor vorstossen. Die Provinz Deir az-Zor (das „z“ ist als stimmhaftes s auszusprechen, wie im Französischen) befindet sich so gut wie vollständig in der Hand des IS. Auch die Provinzhauptstadt, ebenfalls Deir az-Zor genannt, wird hauptsächlich vom IS kontrolliert. Doch der Flughafen und ein kleiner Teil der Stadt selbst werden seit Jahren von der syrischen Armee gehalten und aus der Luft mit dem Nötigsten versorgt.
Ein letztes Zufluchtsgebiet für den IS
Falls Raqqa, weiter oben am Euphrat, fallen sollte, was über kurz oder lang der Fall sein dürfte, wäre die Provinz Deir az-Zor eines der letztes Territorien, in das sich IS-Kämpfer zurückziehen könnten. Von hier aus könnten die Jihadisten auch in die irakische oder syrische Wüste gelangen, wo sie versuchen könnten, Unterschlupf zu finden. Da der Fall von Raqqa näher rückt, gewinnt die Provinz Deir az-Zor zunehmend an strategischer Bedeutung.
Damaskus möchte die Provinz zurückerobern und die seit Jahren belagerte Garnison auf dem Flughafen der Stadt entsetzen. Doch auch für die Amerikaner hat die Provinz mit ihrer Hauptstadt in der bevorstehenden Endphase des Krieges gegen den IS grosse Bedeutung. Die USA wollen nach Möglichkeit vermeiden, dass der IS nach dem Fall seiner beiden Hauptstädte, Mosul im Irak und Raqqa in Syrien, Waffen und Kämpfer in die weite Wüste schafft, die zwischen Syrien und dem Irak liegt. Dies soll verhindert werden, und zwar von den Kämpfern, die die Amerikaner und Briten jetzt in at-Tanf ausbilden. Dem Wüstenfleck kommt also plötzlich strategisch wichtige Bedeutung zu.
Ein iranischer Korridor?
Auch Iran hat Pläne für den Raum Deir az-Zor und die weiter südlich gelegene weite Wüste. Teheran übt bedeutenden Einfluss im Irak auf die schiitischen südirakischen Milizen aus. Auch in Syrien hat Iran grossen Einfluss, solange zumindest, als das Asad-Regime an der Macht ist.
Die iranischen Revolutionswächter arbeiten darauf hin, dass sowohl im Irak als auch in Syrien politisch-militärische Zustände eintreten wie in Libanon. Ziel ist es, eine oder mehrere schiitische Milizen zu fördern, die – mit iranischer Unterstützung – gleich stark oder stärker sind als die Regierungen in Beirut, Damaskus und Bagdad. In Beirut ist dies mit Hizbullah schon gegeben; im Irak beinahe, angesichts der Macht der dortigen Schiitenmilizen; ebenso in Syrien unter Asad. Er und seine Hauptstützen sind zwar Alawiten, nicht iranische 12er-Schiiten. Die Alawiten und Asad sind aber sehr abhängig von iranischer Unterstützung. Bleibt das alles so, kann Iran einen Landkorridor durch die Wüste aufbauen, der sich vom Irak über Syrien und südlich von Damaskus vorbei bis nach Südlibanon erstreckt.
Iranische Waffen nach Libanon
Damit könnte Teheran die iranischen Waffen, die für den Hizbullah bestimmt sind, direkt auf dem Landweg nach Libanon schaffen – und nicht wie bisher auf dem Luftweg zunächst nach Syrien und von dort auf dem Landweg nach Libanon.
Bekanntlich griff die israelische Luftwaffe beinahe systematisch ein, um solche Transporte auf syrischem Territorium zu bombardieren. Dies vor allem dann, wenn Israel in Erfahrung brachte, dass es sich um Waffen handelte, die Israel gefährlich werden könnten, zum Beispiel Raketen neuerer Bauart und ihr Zubehör. Ein Landkorridor würde die Verbindung zwischen Iran und Hizbullah ohne Zweifel verbessern.
At-Tanf jedoch liegt – sozusagen als Stein des Anstosses – auf dem möglichen Korridor. Sollte es den pro-amerikanischen Rebellen gelingen, von dort aus Teile der Provinz Deir az-Zor zu besetzen, könnten sie eine Barriere auf der iranischen Ost-Westverbindung aufbauen. Auch die Saudis und die Jordanier haben Interesse an einem solchen Riegel.
„Dekonfliktierung“ rund um at-Tanf
Die Russen haben natürlich auch ihre Hand im Spiel. Sie haben vor einem Jahr, am 17. Juni 2016, at-Tanf bombardiert, und zwar – nach Angaben der Rebellen – zehn Mal. Dabei seien zwei Kämpfer ums Leben gekommen. Die Amerikaner, damals unter Obama, erklärten, ihre Geduld sei beinahe zu Ende, die Russen hätten Kräfte bombardiert, die gegen den IS kämpften.
Offenbar hat seither eine Absprache zwischen den Russen und den Amerikanern stattgefunden. Danach wurde at-Tanf zu einer „de-konfliktierten Zone“ erklärt. Das heisst, eine Zone, in der die Luftwaffen der beiden Grossmächte einander benachrichtigen, wenn sie dort operieren wollen. So soll vermieden werden, dass Luftkämpfe zwischen den beiden Supermächten stattfinden. Nach amerikanischen Aussagen soll diese Zone einen Radius von 55 Kilometern rund um at-Tanf haben. Die Russen widersprechen dem nicht.
Asads Stellvertreter rücken vor
All dies muss man wissen, um zu beurteilen, was am vergangenen 18. Mai geschah. Eine dem Asad-Regime nahestehende Miliz versuchte, in die „dekonfliktierte Zone“ rund um at-Tanf einzudringen. Die pro-amerikanischen Kräfte, die dort dominieren, nennen sich „Maghawir ath-Thaura“, das heisst „Partisanen der Revolution“ (eine bewusst nicht islamische Bezeichnung). Nach Aussagen des Sprechers dieser pro-amerikanischen Miliz waren die Angreifer Leute einer schiitischen Miliz, die offenbar aus Irakern besteht. Sie seien nordwestlich der Dekonfliktierungszone mit Panzern und Bulldozern der syrischen Armee ausgerüstet worden.
Dort, etwa 25 Kilometer von At-Tanf entfernt, also innerhalb der Dekonfliktierungszone, hätten sie begonnen, eine befestigte Stellung aufzubauen. Dies bestätigte ein amerikanischer Offizier. Amerikanische Quellen und pro-amerikanische Rebellensprecher erklärten, die Eindringlinge seien darauf hingewiesen worden, dass sie sich in der Dekonflitierungszone befänden. Zunächst seien die Stellungen der Eingedrungenen überflogen worden. Später wurden auch Schüsse abgegeben. Doch die Eindringlinge scherten sich nicht darum. Die Russen wurden informiert und gebeten, die eingedrungenen Schiiten-Milizen zum Rückzug zu bewegen. Auch dies brachte nichts. Daraufhin wurden die Russen darüber informiert, dass die Amerikaner die Eindringlinge aus der Luft angreifen würden. Ein solcher Angriff fand dann statt. Ein oder mehrere Panzer, Bulldozer sowie weitere Fahrzeuge wurden getroffen.
Proteste der Russen und Asads
Nach Aussagen des Sprechers der pro-amerikanischen „Partisanen“ befinden sich die Eindringlinge nach wie vor etwa 27 Kilometer von at-Tanf entfernt, also weiterhin innerhalb der Zone. Russland und Syrien haben gegen den amerikanischen Luftangriff protestiert. Moskau erklärte, es handle sich um eine Verletzung des syrischen Territoriums durch feindliche Kampfflugzeuge. Damaskus sagte, die amerikanische Koalition habe Truppen bombardiert, die gegen den IS kämpfen wollten. Die Behauptung, die Amerikaner unterstützten heimlich den IS, gehört zu den Versatzstücken der Propaganda des Asad-Regimes.
Wie die Konfrontation ausgeht, bleibt abzuwarten. Möglicherweise gelingt es den Milizen, die als Helfer des Asad-Regimes kämpfen, die pro-amerikanischen „Partisanen“ in at-Tanf zu blockieren und ihren geplanten Vorstoss Richtung Deir az-Zor zu vereiteln. Oder aber: Zwischen den Pro-Asad-Kräften und jenen, die mit amerikanischer Hilfe sowohl gegen Asad als auch gegen den IS kämpfen, entsteht ein gefährlicher Wettlauf um die Provinz.
Doch die amerikanische Hilfe ist beschränkt. Die Amerikaner können den pro-amerikanischen Milizen mit ihren Kampfflugzeugen nur soweit helfen, als es die Russen dulden. Es sei denn, die Amerikaner nähmen das Risiko in Kauf, dass ihre Kampfflugzeuge ausserhalb der Dekonflitierungszone mit russischen Kampfjets zusammentreffen. Täten sie dies, könnten sie der Auslösung eines Dritten Weltkrieges einen Schritt näher rücken.