Aus diesem Anlass führte Avner Shapira in der Tageszeitung „Haaretz“ am 16. Februar ein Interview mit ihm, das den persönlichen, politischen und wissenschaftlich-akademischen Lebensweg Baumans aufzeichnete. 1)
Bauman wurde 1925 in Poznan (Posen) in eine nicht-religiöse jüdische Familie geboren und floh mit ihr 1939 bei der deutschen Invasion in die Sowjetunion. Am Ende des Zweiten Weltkrieges kämpfte er in der polnischen Armee unter Führung der Roten Armee, in der er auch nach 1945 Dienst tat, bis er 1953 unehrenhaft entlassen wurde, als seine Eltern einen Ausreiseantrag nach Israel stellten. Baumans Frau Janina Lewinson, mit der er seit 1948 verheiratet war, hatte das Warschauer Ghetto überlebt.
Nach seinem Soziologiestudium an der „London School of Economics“ kehrte Bauman nach Warschau zurück und unterstützte politisch den Prager Frühling 1968. Daraufhin wurde er als Dozent entlassen. Mit seiner Frau und den drei Töchtern emigrierte Bauman nach Israel, verließ jedoch das Land 1971 mit der Begründung „Es war ein nationalistisches Land, und wir waren gerade vor einem Nationalismus davongelaufen. Wir wollten nicht als Opfer von einem Nationalismus fortlaufen, um die Täter eines anderen zu werden“. Eine der drei Töchter, Anna Sfard, lehrt Erziehungswissenschaften an der Universität Haifa und ist die Mutter des Menschenrechtsanwalts Michael Sfard.
Die Juden und die Welt - "im ewigen Kampf miteinander"
Im Gespräch mit Avner Shapira beklagt Bauman die Ausnutzung der Erinnerung an den Holocaust in Israel aus unmittelbaren politischen Interessen. Die dahinterstehende Logik sei die, dass die Juden ständig vor einem sich neu abzeichnenden Holocaust stünden. Dies führe jedoch zu insularem Denken und zum Isolationismus und untergrabe Bemühungen um eine Versöhnung mit der internationalen Gemeinschaft.
Bauman verwahrt sich dagegen, dass er die Mauer der Nazis um das Warschauer Ghetto mit der israelischen Trennungsmauer in den palästinensischen Gebieten verglichen habe. Er vermute jedoch, dass die Idee einer Trennungsmauer als Lösung in der israelischen Politik nicht auftauchen würde, wenn es nicht die Ghettomauern gegeben hätte, die im kollektiven jüdischen Gedächtnis tief eingekerbt seien. Die Entscheidung für eine Mauer zwischen Juden und Palästinensern könnte als ein später Triumph Hitlers erscheinen. Denn sie erreiche das, was Hitler nicht gelungen sei: dass die Juden und die Welt im ewigen Kampf miteinander liegen und ihre friedliche Koexistenz unvorstellbar und unmöglich sei. Er vermute, so der heute 87-jährige Soziologe, dass das israelische Establishment sofort auf den Vergleich mit Warschau verfallen wäre, hätte die palästinensische Autonomiebehörde die Mauer errichtet.
Im kollektiven jüdischen Unterbewusstsein sei die Vorstellung von einer Mauer der Archetyp der Exklusion, des Abbruchs der Kommunikation, der Degradierung, der Verweigerung von Menschenrechten. Wäre dies nicht der Fall, bestünden Zweifel, ob die Idee einer Mauer um Israel und die Siedlungen herum bei der israelischen Führung als Mittel aufgetaucht sei, um sich der Nähe des Unerwünschten zu entziehen und zu einem ultimativen Symbol einseitiger und unwiderruflicher Trennung und der Verweigerung von Kommunikation zu werden. Je höher und dichter die Mauer werde, desto dünner die Chance, miteinander zu reden, für die Schmerzen und dem Leiden des Anderen Empathie zu empfinden sowie mit ihm ins Reine zu kommen.
Militarisiertes, politisches Denken - ein schaurige Realität
Seine Gefühle von 1971, aus Israel wegzugehen, würden sich von denen heute wenig unterscheiden, bemerkt Bauman abschließend. Was damals eine schaurige Prognose gewesen sei – dass die Feindschaft gegenüber den Palästinensern zu einer eigenständigen Antriebskraft werde, dass die lange Okkupation die Besatzer moralisch mehr noch als die Besetzten beschädige und dass das „militarisierte“ politische Denken und Handeln zu Lasten der sozialen Probleme und ihrer Überwindung gehen –, sei inzwischen zu einer schaurigen Realität geworden.
„Die Beobachtung bereitet mir enorme Schmerzen, dass unsere kollektive Mission und Pflicht, die uns die jüdische Geschichte aufgetragen hat, vergessen und abgetan werden: die Pflicht, die Welt wachzurütteln, damit sie nicht das endemische Böse in allem nationalistischem Hass vergisst und in vorderster Reihe des Kampfes gegen ihre Brutstätten steht. Und sich dem Anspruch der Gründer des Staates Israel stellt, als ‚ein Licht für die Völker‘ zu dienen.“
1) Avner Shapira: On eve of Israeli visit, renowned academic Zygmunt Bauman laments protracted occupation, in „Haaretz“ 16.02.2013.