Es gibt einen Film, durch den James Nachtwey noch berühmter wurde, als er es ohnehin schon war: War Photographer, 2003. Darin sorgt schon ganz am Anfang eine Szene für Irritation. James Nachtwey fotografiert im Kosowo Frauen, die weinend um ihre Söhne und Männer trauern. Er ist „ganz dicht dran“. Klick, Klick, Klick. Ist das erlaubt? Verletzt er nicht die Grenzen der Intimität gerade im Entsetzen, gerade in der Trauer?
Noch etwas anderes verstört. Auf dem Cover der DVD sieht man ein nur leicht stilisiertes Bild von einem Zivilisten in Turnschuhen mit einem Gewehr, der offensichtlich „in action“ ist. Nachtwey sitzt fotografierend unmittelbar vor ihm auf dem Boden, und zwei weitere Fotografen liegen weiter hinten auf dem Bauch. Links am Bildrand liegt ein Mann, den Blick fragend auf den Kämpfer gerichtet. Die Logik des Bildes scheint darin zu bestehen, dass der Zivilist mit Gewehr der Held ist, der es verdient, dass drei Fotografen ihr Leben dafür einsetzen, um ihn in diesem Augenblick abzulichten.
Alle sind gegen den Krieg
Gibt es ein geheimes, aber um so furchtbareres Zusammenspiel von Gewalt und ihrer Darstellung? Kann man glauben, was darüber gesagt und geschrieben wird? Die Fotografen sagen, der Krieg sei schrecklich, und deswegen müssten sie ihn fotografieren. Die Kämpfer sagen, sie wollten gar nicht zur Waffe greifen, aber sie seien durch die Gegenseite dazu gezwungen worden. Alle sind gegen den Krieg, aber alle führen ihn auf ihre Weise. Und so dreht sich die Spirale der Gewalt weiter und weiter.
Wie kaum ein anderer Fotograf ist James Nachtwey mit Ehrungen überhäuft worden: Martin Luther King Award, fünf Mal die Robert Capa Gold Medal, zwei Mal der World Press Photo Award, zwei Mal Leica Award, sieben Mal „Magazine Photographer of the Year“ - und viele andere, nachzulesen auf http://jamesnachtwey.com. Was nachdenklich stimmt: die Mischung von Auszeichnungen mit rein humanitärem Hintergrund mit Preisen industrieller Anbieter wie Leica und Canon und von Pressehäusern.
Propaganda und Realität
Wie glaubwürdig ist also James Nachtwey? Diese Frage stand ganz sicher nicht im offiziellen Programm des Photoforums10 in Zürich – jedenfalls wurde sie nicht von den beiden Veranstaltern Peter Kurath und Michael Pernet bei der kurzen Begrüssung – mehr ihrer selbst als der Nachtweys - und dem von sich selbst sehr begeisterten Moderator vom Tagesanzeiger, dem Bildredakteur Andreas Wilhelm, artikuliert. Ihnen genügte es vollauf, dass Nachtwey berühmt ist und tolle Fotos macht. Nachtwey aber rang in seinem Vortrag mit der Frage der Glaubwürdigkeit. Wo verläuft die Scheidelinie zwischen einem Voyeurismus, der sich gut verkauft und möglicherweise auch für höchste Ehrungen gut ist, und einer glaubwürdigen Anteilnahme als fühlender Mensch, der Zeugnis ablegt?
Nachtwey erzählt wieder und wieder dieselbe Geschichte: Dass er als junger Mensch durch den Vietnamkrieg und die Proteste dagegen geprägt worden sei und daher beschlossen habe, Kriegsfotograf zu werden. Die Kamera und das Fotografieren sind für also nicht Selbstzweck und „Kunst“, sondern ein Mittel, um die Differenz zwischen der offiziellen Propaganda in Worten und der Realität, die sich am besten in Bildern des Leidens ausdrücken lässt, zur Geltung zu bringen.
Wenn man ermessen möchte, was das bedeutet, ist es sinnvoll, die Perspektive zu erweitern. Darin sollte auf der einen Seite die Persönlichkeit des Fotografen vorkommen, auf der anderen aber das ganze Wechselspiel zwischen der individuellen Absicht und den Mechanismen einer Medienwelt, die eine Art Haifischbecken darstellt, in die jeder fällt, der mit den Medien zu tun hat, so gut seine Absichten auch immer sein mögen.
Höchstes Mass an Gewissenhaftigkeit
Zwischen dem Film War Photographer und der Art, wie Nachtwey selber seine Bilder präsentiert, klafft ein himmelweiter Unterschied. Während der Film Nachtwey eine kühle Monumentalität verleiht, spricht er selber mit leiser, fast gebrochener Stimme, wirkt bescheiden, fast demütig und präsentiert seine Bilder wie fremde Gebilde, die ihm nicht einfach gehören. Dass sie ästhetisch betrachtet oftmals Meisterwerke sind, weiss er selbst, aber diese Ästhetik ist er denjenigen, die er darstellt, schuldig. Denn ihn verbinde mit den Leidenden die „Compassion“, er sei Zeuge und wolle Zeugnis ablegen, und dazu gehöre das höchste Mass an Gewissenhaftigkeit. Also auch das fotografische Können.
Immer wieder wird Nachtwey die Ästhetik zum Vorwurf gemacht. Sie beweise, dass er in die Katastrophen, die er darstelle, heimlich verliebt sei, heisst es in Internetforen, und andere wie Richard B. Woodward setzen noch eins drauf: Ein Modefotograf könne von sich auch nicht behaupten, dass er die Mode verabscheue.
Diese Einwände sind zu naheliegend, als dass man nicht noch einmal darüber nachdenken sollte. Wenn man den Gedanken, dass mit einer Kamera Geschichten erzählt werden, wörtlich nimmt, dann kann man fragen, ob den Leidenden mehr gedient ist, wenn man ihre Geschichten schlecht erzählt. Die Antwort liegt auf der Hand.
Unabweisbare Nähe
Nachtwey hat von 1966 bis 1970 Kunstgeschichte und politische Wissenschaften studiert. Danach fuhr er zur See und war LKW-Fahrer. 1972 hat er beschlossen, Fotograf zu werden und dieses Handwerk in der Praxis erlernt. Er spricht davon, dass seine Bilder immer einen emotionalen Bezug haben. In Anlehnung an sein grosses Vorbild Robert Capa spricht er davon, dass der Fotograf dicht an den Motiven sein müsse. Entsprechend arbeitet auch Nachtwey mit Weitwinkelobjektiven. Nachtwey lädt mit seinen Bildern zu dem Gedanken ein, dass in der authentischen Darstellung der leidenden Menschen ihre Nähe zu uns unabweisbar zum Ausdruck kommt: Sie denken und fühlen wie wir, sie teilen die Liebe zu ihren Kindern wie wir und sie trauern wie wir. Die Wahrheit der Bilder zeigt sich darin, dass die Gesten für uns wahr werden.
Das ist alles andere als selbstverständlich. In der summarischen Darstellung des Leidens in den Medien wird ein Abstand verstärkt, der ohnehin in der Wahrnehmung der Menschen in ihren Gruppen und Kulturen angelegt ist: „Wir und die Anderen.“ In Amerika haben sich Wissenschaftler darüber schon mehr Gedanken gemacht als in Europa, und wer will, kann einmal seinen heimlichen Rassismus untersuchen: https://implicit.harvard.edu/implicit/
Die Frage der subjektiven Glaubwürdigkeit lässt sich nur in subjektiver Überzeugung beantworten. Objektiv ist jeder verdächtig, andere Motive zu haben als die, die er offiziell vorgibt: Hat der Arzt eine heimliche Vorliebe für bestimmte Krankheitsbilder, möchte er andere Menschen beherrschen? Ist der Polizist ein heimlicher Verbrecher? Sind Soldaten nekrophil? Es dürfte unmöglich sein, bis ins Letzte zu klären, warum sich jemand für etwas engagiert und warum jemand was fotografiert.
Entlarvende Momente
Aufschlusssreicher ist es zu sehen, in welchen Kontexten die Bilder entstehen und was mit ihnen geschieht. In dem Film War Photographer gibt es mindestens zwei entlarvende Momente. Der eine besteht darin, dass die CNN Reporterin Christiane Amanpour am Rande der Besichtigung eines Massengrabes in Velika Krusa, Kovovo, erzählt, dass sie anfänglich den Beruf des Kriegsreporters „cool“ gefunden und es genossen habe, dass immer so viel los sei: „You are involved“. Mitleid würde da wohl nur stören.
Die zweite entlarvende Szene findet in den Redaktionsstuben des STERN in Hamburg statt. Der Auslandschef Hans-Hermann Klare betrachtet zusammen mit seinen Kollegen die neuesten Bilder Nachtweys aus dem Kosovo. Gestik, Mimik und Sprache („Das sieht toll aus.“) machen unmissverständlich klar, dass sie das Bild suchen, das den grössten Kick bei den Lesern auslöst. Was Nachtwey Compassion und Rage nennt, ist hier dem Zynismus recht bieder wirkender Leute gewichen.
Die Wirkung der Bilder
Jeder Autor weiss, dass er sich seine Redakteure und Lektoren nicht aussuchen kann und dass diese mit seinen Intentionen oft sehr wenig anfangen können. Aber gerade wenn man so engagiert ist wie Nachtwey, muss man sich die Frage stellen, wie lange man sich dieses Spiel gefallen lassen will. Offenbar ist es Nachtwey mehrmals gelungen, bei Time Magazine Reportagen zu platzieren, die genau die Compassion ausgelöst haben, derentwillen er mit seiner Kamera erzählt. Diese Veröffentlichungen haben zu politischem Eingreifen und humanitärem Engagement geführt. In seiner Rede sprach Nachtwey davon, dass hier der authentische Journalismus kommerzielle Interessen besiegt habe.
Einige seiner erschütternsten Bilder zeigen Menschen, die an Tuberkulose und Aids zugleich leiden. Die Tuberkulose greift immer mehr um sich. Ein Junge trauert um seine Mutter vor einem Bild, auf dem sie in ihrem Hochzeitskleid zu sehen ist. In Minuten sei der Junge zu einem Mann gereift, sagt Nachtwey dazu, und das Herz stockt einem, wenn man die schöne Frau betrachtet, die eine gute Freundin sein könnte. Nachtwey hat eine eigene Stiftung gegründet, um gegen die modernen Formen der TB anzugehen: http://xdrtb.org/ Dort sieht man auch Bilder und kann selbst urteilen, wie aufrichtig Nachtwey ist.
Die Médecins Sans Frontières (MSF) hatten einen eigenen Raum, in dem sie aus verschiedenen Ländern Kombinationen aus Bildern, Videosequenzen und kurzen, erläuternden Texten, präsentierten. Diese Präsentationen waren hoch professionell gestaltet, und man sah viele „schöne Bilder“ – von Landschaften zum Beispiel, aber auch von Menschen. Die Frage, ob hier heimlicher Voyeurismus bedient werde, stellte sich hier deshalb nicht, weil der Rahmen klar war: Aktionen der Médecins Sans Frontières. Und es befanden sich keine solchen Meisterwerke wie die von James Nachtwey darunter.
Das geht Dich an
Allerdings wurde sehr gründlich über die Bilder nachgedacht, wie eine Podiumsdiskussion unter der Leitung des Afrikaspezialisten Ruedi Küng deutlich machte. Laurent Sauveur, Leiter des Kommunikations- und Fundraising-Departements von MSF berichtete, wie genau darauf geachtet wird, dass Bilder nicht einfach schockieren. Mangelernährung wird gezeigt, ja, aber man achtet darauf, die Grenzen zur nachtschwarzen Verzweiflung nicht zu überschreiten. Statt anzuklagen, will man zur Hilfe motivieren. Das sollen die Bilder aussagen – nicht mehr und nicht weniger.
Eine Bildfolge handelt vom Kongo. Der Fotograf Marcus Bleasdale von der Fotoagentur VII (www.viiphoto.com) berichtete in der Diskussion, dass ihn die Arbeit im Kongo mehr aufgewühlt habe als im Irakkrieg. Denn der Kongo sei eine blühende Landschaft, in der niemand hungern müsse, wenn es nicht diesen seit 1998 andauernden Krieg gäbe.
Welches Fazit lässt sich von dieser Seite des Photoforum ziehen? Die Fotografie des Leidens wird ihre Zweideutigkeit nicht verlieren. Aber eines konnten die Betrachter spüren: Bilder wie die von Nachtwey oder der Médecins Sans Frontières bringen uns die Menschen näher, als dies in den rasch fabrizierten Reportagen der Massenmedien geschieht. Compassion und die Genauigkeit der engagierten Fotografie vermitteln die Botschaft: Das geht Dich an.