Zum Saisonstart erinnern wir uns an unseren Hund. Da gibt es nämlich etwas ganz Spezielles, das er mit uns gemeinsam hatte: Auch er pendelte zwischen der Geborgenheit im Alten und dem Reiz des Neuen.
Wer seinen Hund kennt und regelmässig mit ihm auf Wanderschaft geht, weiss sehr wohl, dass man als Hundemeister auf einer erstmals begangenen Route ein ganz anderes Tier erlebt als auf einem Spaziergang, der zum üblichen Varianten-Repertoire gehört.
Neurgierig ins Unbekannte
Nicht dass der Hund die normalen Routen nicht schätzen würde. Im Gegenteil: Zora pflegte freudig wedelnd, zielbewusst und weit vorangehend sämtliche Ruhebänke und Feuerplätze anzusteuern, wo Wanderer gerne einen Wurstzipfel oder ein Stück Eierschale auf dem Boden liegen lassen. Nur an gewissen Wegverzweigungen, an denen ich – je nach Laune und zeitlichem Stress – jeweils über eine kürzere oder längere Untervariante des betreffenden Rundganges entschied, wartete sie und ging dann, die Stimmung des Meisters erspürend, dezidiert in die eine oder andere Richtung, so dass man nicht zu widersprechen wagte. Manchmal blieb sie auch mitten auf dem Weg stehen, schaute dem nachkommenden Meister tief in die Augen und machte ein paar Schritte zurück, als wollte sie sagen: Lass uns hier umkehren, du hast heute nicht so richtig Lust und ich finde auch kaum etwas Vernünftiges auf meinen bevorzugten Beuteplätzen.
Ganz anders in neuem Gelände: Man steigt irgendwo aus dem Zug oder dem Bus, der Hund trottet an der Leine durch die Einfamilienhauswüste bis hinauf zum Waldrand, um dann, endlich von der Leine befreit, voller Neugierde in unbekanntes Gelände vorzustossen. Hier fordert ein modernder Haufen von Laub und Ästen dazu auf, sich auf dem Rücken zu wälzen, dort eine weite Wiese zu einem Spurt bis zum Stumpf eines Apfelbaums, der von weitem wie eine Katze aussieht. Zudem weiss ein findiger Hund sehr wohl, dem Meister seine Lust auf den Reiz des Neuen mitzuteilen. Wäre es nicht schön, hier den Weg zu verlassen und den steilen Hang hinunter bis zu jenem Wässerlein zu rennen, das unten im Tal in der Sonne blitzt? Oder hier, dieser Holzweg, in dessen lehmigem Grund sich die Räder eines Traktors eingegraben haben, wäre er nicht weit spannender als diese langweilige, saubere Waldstrasse. – Auf die Idee, irgendwo stehen zu bleiben und umzukehren, kommt ein Hund auf einem neuen Spaziergang nie. Da gibt es nur eines: Der Neugierde gehorchend immer weiter ins Unbekannte vorzustossen.
Vorbereitungen
Doch halt, was schreibt er denn da, werden Sie sich fragen, über diesem Artikel steht doch „Auf Europas Flüssen“. – Tatsächlich bin ich in Gedanken unterwegs zu Europas Flüssen, genauer: unterwegs zu den Gewässern von Berlin, nur braucht man dazu nach sieben Monaten Landrattendasein den richtigen Einstieg. Auf der Suche nach dem Steg vom Land aufs Wasser habe ich mich an die gute alte Zora erinnert, welche vor einem Jahr – in hohem Hundealter – die Erde mit dem Hundehimmel vertauscht hat. Denn niemand konnte die Ambivalenz unserer Empfindungen zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, welche am Anfang der diesjährigen Schiffssaison steht, so gut ausdrücken wie sie.
Vor einer Woche wurde die Solveig VII in Köpenick von einem mächtigen Pneukran auf das Wasser gesetzt. Sie hatte zum Glück während der dunklen Winterzeit das Schwimmen nicht verlernt. Vergnügt schaukelte sie auf der Spree in den Wellen eines vorbeifahrenden polnischen Frachters, als wir am Montag im voll beladenen Auto ankamen. Es folgen die üblichen Pflichten und Aufregungen: Gepäck im Schiff verstauen, Nahrungsmittel und Getränke einkaufen, Funktionstüchtigkeit aller technischen Einrichtungen überprüfen und dabei immer wieder Momente des Schrecks erleben, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert oder eine nötige Reparatur im Winter vergessen worden war und nun in letzter Minute nachgeholt werden muss.
Leinen los!
Nach zwei Tagen heisst es endlich „Leinen los“. Unser erster Reisetag ist schon fast ein Klassiker: Er führt uns auf der Spree vom südöstlichen Rand von Berlin mitten durch die Stadt, an der Museumsinsel, dem Hauptbahnhof und dem alten Reichstag vorbei. Für einen kurzen Augenblick grüsst die Schweizer Fahne auf dem Botschaftsgebäude die Schweizer Flagge am Heck unserer Solveig, dann folgt schon das Kanzleramt, später der Park von Schloss Charlottenburg und schliesslich die Havel, die bald zu einem langgestreckten See wird, dessen eine Bucht unter dem Namen „Wannsee“ berühmt geworden ist, wo unser Freund Günter Albrecht am Steg des Motorbootclubs Berlin die Solveig und ihre Besatzung willkommen heisst.
Meine Frau und ich meinen auf dieser gut vierstündigen Fahrt, über die ich im letzten Jahr ausführlich berichtet habe, jede Brücke, jedes Haus und jede Spray-Inschrift („Pull the plug“) zu kennen, und doch wird sie uns nie langweilig, im Gegenteil. Es ist die Geborgenheit im Alten, sich Wiederholenden, welche einen Teil unserer Lebens ausmacht und uns veranlasst, ein Buch mehrmals zu lesen, immer und immer wieder das gleiche Musikstück zu hören, im gleichen Restaurant zu speisen und die gleichen Spazierwege zu gehen – mit oder ohne Hund.
Unsere diesjährige Schiffsreise begann mit der Geborgenheit des Alten, aber sie wäre keine wirkliche Reise, wenn sie nicht auch den Reiz des Neuen einschlösse. Unterdessen sind wir, an Potsdam und der Stadt Brandenburg vorbei, in Havelberg angekommen, wo die Havel in die Elbe mündet. Die Elbe ist einer der wenigen grossen Flüsse Europas, welcher nicht reguliert ist. Bei Hochwasser wird sie zum ausufernden, gefährlichen Strom, bei langer Trockenheit kann sie zum kleinen Rinnsal verkommen, das man an gewissen Orten zu Fuss überqueren kann. Diesem Fluss wollen wir unsere Solveig mit ihrem Tiefgang von 1.35 Meter morgen ein Stück weit anvertrauen. Die Pegelprognosen sehen günstig aus, zumindest wenn man der Fahrrinne folgt und nicht irgendwo auf einer Buhne stecken bleibt. Nach der Geborgenheit des Alten der Reiz des Neuen. Wäre Zora noch dabei, so würde sie sich bestimmt freuen. Fortsetzung folgt.