Die Deutschen sind nicht gerade berühmt dafür, auf dramatische Ereignisse und in aufgewühlten Situationen besonders ruhig und in erster Linie vernunftbestimmt zu reagieren. Das gilt für Politiker gleichermaßen wie für große Teile der Medien. Und die Menschen im Land lassen sich davon zumeist rasch anstecken. Beispiele dafür gibt es in der Vergangenheit zuhauf.
Umso bemerkenswerter ist, wie vergleichsweise unaufgeregt die Gesellschaft zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz (noch?) mit dem Bewusstsein umgeht, dass man spätestens jetzt nicht mehr auf einer Insel der Sicherheit lebt, sondern der in menschlichen Hirnen ausgedachte und von menschlicher Hand verübte Terror in seiner blutigsten Form auch hier angekommen ist.
Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach
Gewiss, die innerhalb von nur wenigen Tagen verübten Anschläge von Würzburg, München, Reutlingen und Ansbach sind mit Blick auf die Zahlen der Opfer nicht zu vergleichen mit denen in Paris, Brüssel oder Nizza. Aber das Leid der Angehörigen ist immer individuell und bemisst sich nicht an Mengen.
Dasselbe gilt für das Motiv der Täter. Für einen Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob sein Leben von einem Amokläufer (wie in München) oder einem religiös-fanatischen Mörder (wie in Würzburg) ausgelöscht wird. Zumal – und das ist ja das besonders Perfide an dieser „modernen“ Art von Attentaten – nicht mehr gezielt Angehörige bestimmter Berufsgruppen (Politiker, Banker, Wirtschaftsbosse) ausgesucht werden, sondern ganz einfach irgendjemand. Das vorrangige Ziel der Täter ist, Angst und Panik zu verbreiten sowie Zweifel an der Fähigkeit des Staates, seine Bürger zu schützen.
Gerade vor diesem Hintergrund ist ein (jedenfalls für Deutschland) verblüffendes Phänomen zu beobachten. Trotz der grausamen Ereignisse der vergangenen Tage ist jenes, meistens regelrecht reflexartige Reagieren der tatsächlichen oder vermeintlichen Meinungsführer in der Öffentlichkeit ausgeblieben. Also: Die sofortigen Rufe aus dem politischen Bereich nach schärferen Gesetzen, die gebetsmühlenartigen Mahnungen in den Medien oder aus kirchlichen Kreisen, nun dürften auf keinen Fall bestimmte Gruppen (will sagen: Flüchtlinge und Asylbewerber) „unter Generalverdacht“ gestellt werden oder – das genaue Gegenteil – Hass- und Hetzreden aus der rechtsradikalen Ecke. Natürlich gibt es einzelne Ausnahmen, aber eben noch keine „Bewegung“.
Münchens Polizei und ihr „Sprachrohr“
In der Vergangenheit ist in der Folge von polizeilichen Grosseinsätzen (und zwar keineswegs nur, wenn dabei auch Menschen zu Schaden kamen) in aller Regel sofort die Frage oder der Vorwurf laut geworden, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt oder nicht vielleicht doch mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden sei. Nichts davon jetzt. Stattdessen von allen Seiten höchstes Lob zum Beispiel für die Münchener Sicherheitskräfte und deren Einsatzkonzept.
Und dies, obwohl doch die allerhöchste Alarmstufe ausgelöst und eine ganze Millionenstadt lahmgelegt worden war. Und das alles nur wegen eines Amokläufers! Es erscheint absurd – aber viel spricht dafür, dass das Auftreten eines einzigen Mannes zu einem erheblichen Teil für diese positive Einstellung der Öffentlichkeit verantwortlich war.
Die ruhige, besonnene, mahnende und (nicht zuletzt) die aufgeregten Medienvertreter disziplinierende Art des polizeilichen Pressereferenten Marcus da Gloria Martins (ein Mann mit portugiesischen Wurzeln) war Beispiel gebend. Es wäre zu wünschen, wenn davon eine Langzeitwirkung ausginge.
Kein sicherer Wert
Dabei erscheinen die Vorgänge in München gerade im Rückblick fast paradox. Anders als die Bluttat eines afghanischen Asylbewerbers in der Eisenbahn bei Würzburg, anders auch als bei dem syrischen Selbstmord-Attentäter in der kleinen mittelfränkischen Residenzstadt Ansbach und selbst bei der (vermutlich als „Beziehungstat“ erwiesenen) tödlichen Attacke im schwäbischen Reutlingen war „München“ nicht islamistisch motiviert.
Aber das konnte lange niemand wissen. Und im Gefolge davon zeigt sich auch, wie brüchig die momentane, scheinbare Gelassenheit in der Bevölkerung ist. Obwohl meilenweit vom eigentlichen Geschehen entfernt, waren in der bayerischen Hauptstadt ganze Gruppen in regelrechte Panik verfallen, weil irgendjemand Schüsse gehört haben wollte – und sei es nur auf dem Weg über facebook und smartphone gewesen.
Der Streit wird bestimmt noch kommen
Man muss über keine seherischen Fähigkeiten verfügen, um vorherzusagen, dass die öffentliche Diskussion (man kann auch sagen: „der Streit“) über den richtigen Weg in der künftigen Sicherheitspolitik nicht lange auf sich warten lassen wird. Wobei mit „Sicherheitspolitik“ keineswegs nur die Instrumente der inneren Sicherheit (Polizeistärke, Ausrüstung, Video- und Kommunikations-Überwachung usw.) gemeint sind. Schon kommt vereinzelt die Forderung, auch die Bundeswehr stärker heranzuziehen. Schon das wird vermutlich ein Hauen und Stechen auslösen.
Mehr noch als das, freilich, dürfte in den kommenden Monaten die Problematik der Flüchtlings- und Asylpolitik in den Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung rücken. In Deutschland stehen Wahlen vor der Tür. Und nicht zuletzt die Täter von Würzburg und Ansbach liefern jenen genug Futter, die schon immer gewusst haben wollen, dass in den Flüchtlingstrecks über den Balkan und das Mittelmeer keineswegs nur Verfolgte mitzogen.