Wie viel Information braucht eine Demokratie? Und wie viel verträgt sie?
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der neuen Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Von Nick Sempach
(Nick Sempach ist sechzehn Jahre alt und lebt in Zürich. Er besucht die vierte IB-Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Er ist Vizepräsident des Vereins „Solidarität“ des Realgymnasiums. Im vergangenen Dezember erreichte er das Schulfinale des Debattierwettbewerbs „Jugend debattiert“.)
„Das Erste, was Diktatoren tun, ist die Abschaffung der freien Presse und die Einführung der Zensur. Es gibt keinen Zweifel, dass die freie Presse der mächtigste Feind der Diktaturen ist“, sagte Fidel Castro 1959 bei einer Rede in Washington; Und nicht nur er verstand es, dieses Prinzip umzusetzen. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat es längst verstanden: Auf der jährlich publizierten Rangliste der Pressefreiheit findet sich die Türkei auf Platz 155. Sie liegt damit noch hinter Ländern wie Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Alleine nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli letzten Jahres wurden weit über hundert Journalisten verhaftet, um die hundertfünfzig Medienhäuser geschlossen und rund siebenhundert Presseausweise annulliert. Die übrig gebliebenen Medienschaffenden aus dem In- und Ausland werden von Erdogan und seiner Partei AKP streng kontrolliert, wodurch eine kritische Berichterstattung faktisch verunmöglicht wird.
Der Rettungshafen „Social Media“
Doch im Zeitalter des Internets gibt es noch weitaus bedrohlichere Feinde für Diktaturen als die freie Presse: Social Media. Auf Social Media kann jeder ungefiltert seine Meinung kundtun: Es bietet Raum für grenzenloses Bürgerengagement, und Informationen, die allzeit und allerorts aufgerufen werden können, verbreiten sich schneller als ein Lauffeuer.
Erdoğan sind all diese Dinge sichtlich ein Dorn im Auge. Denn dass sich das Internet – ganz im Gegensatz zu den traditionellen Medien – nicht so leicht zensieren lässt, wurde beim Versuch der türkischen Regierung, den Kurznachrichtendienst Twitter zu sperren, auf eindrückliche Art zur Schau gestellt.
Demokratie und „fake news“
Doch all diesen positiven Eigenschaften zum Trotz: Die sozialen Medien – allen voran Twitter – können in einer Demokratie auch gehörigen Schaden anrichten. Auf ihnen herrscht eine solche (Über-)Fülle an Informationen, dass sie sich über kurz oder lang als nicht minder problematisch erweisen könnte. Immer häufiger ist von „fake news“ oder gar einem postfaktischen Zeitalter die Rede.
Deshalb stellt sich die Frage, ob allenfalls eine Filterung der auf dem Internet zugänglichen Informationen vonnöten wäre. Denn eine informierte Wählerschaft stellt einen der Grundpfeiler für das Funktionieren einer Demokratie dar. Dieses Funktionieren wird durch die ausserordentliche Menge an Informationen, deren Wahrheitsgehalt unmöglich überprüfbar ist, allerdings sichtlich beeinträchtigt. Es ist unmöglich, sich selbst mit all den vorhandenen Informationen auseinanderzusetzen oder den Wahrheitsgehalt von sämtlichen Informationen stets eigenhändig zu überprüfen. Und wenn man diese Überprüfung trotzdem versucht, dann findet auch sie auf dem Internet und den Kanälen wie Facebook oder Twitter statt: Sowohl Informationsbeschaffung als auch Informationsverbreitung sind jenseits der Grenzen von Social Media nicht mehr denkbar, sodass auch Präsident Trump twittern muss, um sich gegen die auf Twitter formulierte Opposition zur Wehr zu setzen. Nicht einmal der „mächtigste Mann der Welt“ kommt ohne Social Media aus, und spätestens seit Trump wissen wir auch, dass es nicht nur alternative Meinungen, sondern angeblich auch „alternative facts“ und „alternative truths“ gibt.
Dass dies unverkennbar eine Bedrohung für die Demokratie darstellt, liegt auf der Hand. Denn wie der ehemalige US-Senator Daniel Patrick sagte: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf seinen eigenen Fakten.“ Denn demokratische Entscheidungen, die Aufgrund von „falschen Fakten“ gefällt wurden, sind nicht in der Lage, die Meinung der Bevölkerung exakt widerzuspiegeln. Es scheint also klar, dass der Wahrheitsgehalt von Informationen im Internet zum Schutz der Demokratie überprüft werden sollte. Nur: von wem?
Im Grunde genommen wäre es die Aufgabe der verschiedenen Parteien und der Medien, die Verbreitung von „falschen“ oder Halbwahrheiten aufzudecken und einzudämmen.
Die Problematik liegt nun darin, dass es mit der schnelleren Verbreitung von immer mehr „Informationen“ zunehmend schwieriger wird, diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Und gerade in einer freien Demokratie würde schnell und wohl nicht zu Unrecht der Vorwurf laut, die Informationsfreiheit würde durch diese kontrollierende Filterung eingeschränkt. Letztlich muss also die Verantwortung trotz aller fast schon paradox anmutenden Schwierigkeiten bei jedem einzelnen Bürger liegen, die Richtigkeit der Informationen zu überprüfen und nach den gewonnenen Erkenntnissen zu stimmen.
Aber eben: Wie soll das angesichts der Flut von (alternativen) Fakten noch funktionieren?
Ex malis eligere minima oportet (Cicero: „De officiis“ III, 29,105)
Die Demokratie wird zurzeit folglich von zwei Seiten bedroht. Zum einen führt die Fülle an Informationen dazu, dass sich der Versuch, zu wahren und relevanten Informationen zu gelangen, zunehmend wie die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen ausnimmt. Auf der anderen Seite fehlt es an vertrauenswürdigen Nachrichtenportalen, die uns unterstützen können und wollen. Der Beruf des Journalisten befindet sich im Wandel, Auflagezahlen sinken, der Fokus wird – welche Überraschung – zunehmend auf das alles beherrschende Internet gelegt, und es geht immer weniger um Hintergründe und Analysen, sondern nur noch um das Generieren einer möglichst hohen Anzahl Klicks. Paradoxerweise haben wir daher trotz des Überflusses an Informationen letztlich eine Verknappung an Informiertheit.
Die Lösung steht bereits in der Überschrift: „Von mehreren Übeln muss man das kleinste wählen.“ Die Demokratie muss lernen, mit dieser ausserordentlichen Menge an Informationen, welche nicht zwingend der Wahrheit entsprechen, umzugehen. Eine Einschränkung – aus welchen Gründen und mit welchen Absichten auch immer – ist keine Option.
Ein Plädoyer für mehr Hintergrundjournalismus
Der Rückgang an Hintergrundinformationen stellt das weitaus grössere Übel für die Demokratie dar. Um den Hintergrundjournalismus zu retten, muss die Nachfrage nach solchem gesteigert werden. Wie aber lässt sich die Nachfrage steigern? Das Hauptproblem liegt wohl darin, dass die Demokratie langsam aber sicher alt wird. Einige sind enttäuscht von der Demokratie, was zu einem grossen Teil am Erfolg von populistischen Strömungen wie Trump und der AFD beiträgt. Ebenso sinkt das Interesse der Jugend an politischen Entscheidungen. Eine Studie der Universität Bern zeigt, dass die Stimmbeteiligung der 18- bis 25-Jährigen konstant weit unter der durchschnittlichen Stimmbeteiligung liegt.
Das Desinteresse an politischen Entscheidungen hat zur Folge, dass Hintergrundinformationen, die für die politische Meinungsbildung wichtig sind, an Stellenwert verlieren. Deshalb ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, dass mehr Wert auf politische Bildung im Schulunterricht gelegt wird. Und dies nicht nur auf Gymnasialniveau, denn die Aufgabe der Demokratie besteht darin, das Volk als Ganzes entscheiden zu lassen, und zum Volk gehören alle Bildungsschichten. Mehr politische Bildung würde zu einem wachsenden Interesse an der Politik führen, wovon nicht nur die Schweizer Demokratie profitieren würde, denn ein grösseres Interesse an der Politik steigert auch die Nachfrage nach Hintergrundinformationen und Analysen. Es bleibt zu hoffen, dass die Schule weiterhin Raum für Demokratie bietet; Gerade auch in einer Zeit, in der alles zunehmend auf die Erhöhung von Klicks und die Erfüllung von Wirtschaftsstandards ausgerichtet ist.
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Die Schülerinnen und Schüler wählen die Themen, die sie im Journal21.ch behandeln, selbst.
Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected])
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch