Dieser Tage konnte man im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“ zwei sehr persönlich gefärbte Beiträge von bekannten Intellektuellen lesen, die zu vergleichen nicht ohne Reiz und Erkenntnisgewinn ist. Es handelt sich einerseits um die offenbar mit kalter, zynischer Wut verfasste Polemik des schweizerischen Schriftstellers Lukas Bärfuss gegen die politischen Zustände in seinem Vaterland. Und andererseits um die bewegende Frankfurter Rede des deutsch-iranischen Intellektuellen Navid Kermani zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.
Gibt es Hoffnung?
Kermanis Rede ist eine ergreifende und betroffen machende Auseinandersetzung mit dem Phänomen des gewalttätig-terroristischen Islamismus. Der Autor ist selber Muslim, in Deutschland aufgewachsen und gleichzeitig ein profunder Kenner christlicher Weltanschauung. Seine Ausführungen sind luzid und differenziert, er äussert sich kritisch über „unsere Apathie“ im Westen gegenüber der blutigen Tragödie in Syrien und über das westliche Bündnis mit Saudiarabien, „dem Hauptsponsor des Jihadismus“. Gleichzeitig urteilt er selbstkritisch über jene Muslime, die behaupten, die Orgie der Gewalt, die viele Länder des Nahen Ostens heimsuche, habe „nichts mit dem Islam zu tun“. Der Islam, erklärt Kermani, führe heute nicht primär einen Krieg gegen den Westen, sondern „eher einen Krieg gegen sich selbst“.
Der Autor berichtet vom katholischen Pater Jacques Mourad in Syrien, den er vor drei Jahren in dessen Kloster kennenlernte und der tiefes Interesse und Sympathie für den muslimischen Glauben empfindet. Im Mai 2015 wurde dieser Pater von Terroristen des IS entführt, zwei Monate später sein Kloster mit dem bis zu 1700 Jahre alten Gemäuer von IS-Bulldozern zerstört.
„Gibt es Hoffnung?“ fragt Kermani in seiner Frankfurter Rede. Ja, es gibt sie, beantwortet er die Frage selber: Der entführte Pater Jacques Mourad ist inzwischen frei. Ihm wurde von – offenbar muslimischen – Bewohnern des syrischen Städtchens, zu dem sein christliches Kloster gehörte, zur Flucht aus seiner Zelle verholfen. Er wurde verkleidet und mit Hilfe von Beduinen aus dem vom IS beherrschten Gebiet geschafft. Die Liebe, sagte der Redner, habe in diesem Fall „über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus gewirkt“.
Aufklärung und Polemik
Was für ein Kontrast zwischen diesem ernsten, klarsichtigen, mit realen Tatsachen beschwerten und bei aller Tragik des Themas zutiefst humanen Text und dem oberflächlichen, wehleidigen und wirren Rundumschlag des Schriftstellers Bärfuss gegen die Schweiz. Natürlich, es handelt sich hier um kaum vergleichbare Textsorten. Navid Kermani will mit seiner Rede aufklären, Widersprüche und Abgründe aufzeigen, aber gleichzeitig die Hoffnung auf Toleranz und Verständigung wecken.
Von solchen aufklärerisch-humanistischen Regungen ist im Text von Bärfuss nichts zu entdecken. Er will am Vorabend der eidgenössischen Parlamentswahlen polemisieren, seinen Frust über die sich abzeichnenden Gewinne „der Rechten“ – will heissen der nationalkonservativen und der liberalen Partei – ventilieren.
Das ist das gute demokratische Recht jedes Bürgers. Aber darf man von einem Schriftsteller nicht etwas mehr argumentative Stringenz und Glaubwürdigkeit erwarten als von einem Schwadronierer am Stammtisch? Bärfuss behauptet, die Politiker in der Schweiz hätten „den nationalen Karren so tief in den Dreck gefahren, dass keiner weiss, wie er jemals wieder befahrbaren Boden unter die Räder bekommen soll“.
Helvetischer Tellerrand
Bei solchen Aussagen drängt sich unabweislich der Eindruck auf, dass Bärfuss offenbar nie einen Blick über den helvetischen Tellerrand hinaus getan hat – dabei hat er immerhin einen von der Kritik gelobten Roman („Hundert Tage“) über den Völkermord in Ruanda zwischen Hutis und Tutsis geschrieben. Man muss ja nicht gleich afrikanische Verhältnisse zum Vergleich mit der angeblich so tief im Dreck steckenden Schweiz heranziehen. Aber man kann sich ausmalen, was etwa ein deutscher, italienischer, griechischer, ukrainischer oder gar ein syrischer Bürger dabei denken mag, sollte er sich die Bärfusssche Schweiz-Beschreibung zu Gemüte führen.
Inhaltlich dürftig sind die Bemerkungen des Schriftstellers Bärfuss zur EU. Ihn interessiert in seinem Pamphlet einzig der Umstand, dass die Schweiz ein ungeklärtes Verhältnis zu diesem benachbarten Staatenverbund hat. Was der Sinn und die Zielbestimmung der EU ist oder sein könnte, auch für die Schweiz – dazu fehlt jeder gedankliche Anstoss.
Noch schläft die Vernunft
Auch kein einziges Wort zur akuten Flüchtlings- und Migrationskrise, die gegenwärtig die europäischen Bürger schwer beschäftigt und die wohl auch den Wahlausgang in der Schweiz substanziell beeinflusst hat. Der Friedenspreisträger Kermani hat dazu in seiner Frankfurter Rede folgendes gesagt: „Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheissung, die Europa immer noch ist.“
Statt die Existenz seines Heimatlandes in solchen Zusammenhängen zu thematisieren, empört sich Bärfuss in seiner zwerggeistigen Nabelschau nur darüber, dass die Schweiz draussen in der Welt „immer weniger zu sagen“ habe. Doch dies, behauptet der Autor, störe das biedere Schweizer Wahlvolk überhaupt nicht: „Ein Volk von Zwergen will man hierzulande sein und bleiben.“
Zum Schluss seiner gänzlich humorfreien Tirade lässt Bärfuss dann aber doch etwas Trost und ein Quentchen Selbsterkenntnis aufblitzen: „Der Wahnsinn, die Katatonie, die psychotische Störung können nicht ewig herrschen. Die Vernunft hierzulande ist nicht tot, sie schläft einfach sehr, sehr tief.“ – Hoffnung besteht also auch für den Schriftsteller B.