Es gibt ehrenwerte Gründe, für oder gegen den Bau einer zweiten Röhre zu sein. Doch könnte es sich lohnen, Schlagworte und Argumente genauer auszuleuchten. Zwar lassen sich mit Behauptungen Abstimmungen gewinnen, doch ob der Bau einer zweiten Röhre in diesem Fall die beste und nachhaltigste Lösung ist? Die Ansichten gehen weit auseinander.
Zweifelhafte bundesrätliche Versprechen
Anlässlich der feierlichen Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels 1980 verkündete Bundesrat Hans Hürlimann vor versammelter Prominenz: „Dieser Tunnel soll kein Korridor für Schwerverkehr werden“. Jahre später sagt Bundesrätin Doris Leuthard in einem Interview: „Es wird keine Kapazitätserweiterung geben, das wird gesetzlich festgeschrieben.“
1980 durchquerten 741‘000 Fahrzeuge den Tunnel, davon 66‘000 LKWs. 1997 waren es 6‘530‘000 Fahrzeuge, davon 1‘170‘000 LKWs. Zieht man in Betracht, was sich in nur 30 Jahren verändert hat, fällt es schwer, dem Argument „keine Kapazitätserweiterung“ Glauben zu schenken.
Bundesrätin Leuthard argumentierte lange Zeit für die zweite Röhre mit dem Argument, der bestehende Tunnel müsste für längere Zeit gesperrt werden. Heute melden sich Fachleute aus allen Bereichen mit der gegenteiligen Überzeugung. Zudem bezeichnet Leuthard „ihr“ Projekt als nachhaltig.
Missbrauchter Begriff Nachhaltigkeit
Das Wort „nachhaltig“ („sustainable“) ist einer jener Begriffe, der in der Schweiz auch dort verwendet wird, wo völlig gegenteilige Ziele angestrebt werden. Politiker und Lobbyisten finden jederzeit einen Dreh, ihre Partikularinteressen als nachhaltig zu loben. Während im englischen Sprachgebrauch und damit weltweit in erster Linie umweltverträgliche oder ökologische Anliegen zusammengefasst werden, werden hierzulande auch ökonomische oder finanzielle Projekte immer öfter als nachhaltig gepriesen. Nachhaltig tönt gut – clevere PR-Berater haben das längst entdeckt.
Ganz generell muss festgestellt werden, dass jede neue Strasse, jede neue Autorbahn automatisch zu Mehrverkehr führt. Darin sind sich – ausser ein paar unbelehrbaren Lobbyisten – alle einig. Wie in diesem Fall von einer nachhaltigen Lösung gesprochen werden kann, bleibt das Geheimnis der Begründer der Kampagne für eine zweite Röhre. Der Autoverkehr ist einer der Hauptverursacher der Klimaerwärmung, und dagegen ist im Moment noch kein Kraut gewachsen.
Sich an der Welt-Klimakonferenz in Paris (in der Theorie) für mehr Nachhaltigkeit einzusetzen, ist lobenswert. Gleichzeitig (in der Praxis), vor einem anderen Publikum, für einen „nachhaltigen“ Autotunnel zu weibeln, ist bemerkenswert.
Für eine sichere Schweiz
Vollends absurd ist die Argumentation des in alle Haushalte verteilten Propagandablatts des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), mit der Überschrift „Gotthardtunnel JA! Für eine sichere Schweiz.“ Unwillkürlich taucht da im Gedächtnis das Extrablatt der Schweizerischen Volkspartei auf, in dem versprochen wird: „endlich Sicherheit schaffen!“ Allerdings geht es in Letzterem um die Ausschaffung krimineller Ausländer. Das Wort „Sicherheit“ wird wohl noch häufiger im Zusammenhang mit politischen Anliegen missbraucht als „Nachhaltigkeit“.
Sicherheit gibt es nicht. In beiden Fällen scheinen den Autoren Schlagworte wichtiger als Argumente. Doch mit Sicherheit ist „mehr Sicherheit“ ein modisch einlullendes Versprechen, das Erfolg verspricht. (Die Aufmachung dieser beiden Extrablätter gleicht sich auf frappante Weise. Warum wohl)?
Politischer statt sachlicher Entscheid?
Der Zeitpunkt der grossen Meinungs-Kehrtwende im Bundesrat kann exakt datiert werden. 2010 trat Moritz Leuenberger als Bundesrat und Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) zurück, ihm folgte Doris Leuthard. Galt vorher die Einsicht, die Sanierung des bestehenden Tunnels sei ohne zweite Röhre machbar, galt fortan die Devise: es braucht sie unbedingt.
Vor allem Ingenieure aus dem Umfeld des Tunnelbaus ärgern sich. Ihre Vorschläge liegen auf dem Tisch, wie ohne zweite Röhre saniert werden könnte. So etwa der pensionierte Oskar Stalder oder Christian Menn, einer der wohl bekanntesten Bauingenieure im Land. Beide beklagen, dass kein Konzeptwettbewerb stattgefunden hat und nicht genügend Varianten geprüft worden seien.
Im Uvek selbst scheinen die Meinungen uneinheitlich zu sein. Hiess es früher, der alte Tunnel müsse selbst während des Neubaus der zweiten Röhre für 140 Tage vollständig gesperrt werden, heisst es nun, darauf könne verzichtet werden. Das Bundesamt für Strassen (Astra) verkündete im Dezember 2015, die Totalsanierung des bestehenden Tunnels sei vor 2035 gar nicht notwendig. Damit ist auch das wichtigste Argument vom Tisch, welches das Parlament seinerzeit bewog, auf die Vorlage einzutreten: Die nicht mehr garantierte Sicherheit im Tunnel ab 2025.
In einem bürgerlichen Nein-Komitee werden die vom Bund gemachten Annahmen für die Variante Sanierung vehement kritisiert. Der Platzbedarf für Verladetunnel wird als wesentlich kleiner bezeichnet als „angedroht“, andere Annahmen seien schlicht veraltet.
Verfrühte Abstimmung
Bauspezialist Stefan Krebser aus dem Tessin ist der Überzeugung, die Abstimmung sei heute verfrüht. Neben den oben erwähnten neuen Erkenntnissen stört er sich daran, dass in der zweiten Röhre neue Normen (z.B. Deckenerhöhung um 30 cm) zur Realisierung kämen, um einer EU-Norm gerecht zu werden, die nicht einmal Österreich bei der Sanierung des Arlbergtunnels eingehalten hätte.
Man darf es den Politikern in Bern nicht verübeln, wenn sie jetzt verunsichert sind. Einige zweifeln gar die Seriosität des Astra an. Eine Nationalrätin meint: „Bei unserem Entscheid im Parlament wussten wir nicht alles – beim Volksentscheid vom 28.2.2016 wissen wir noch immer nicht, welche Arbeiten überhaupt nach 2035 an der alten Tunneldecke überhaupt nötig sein werden.“
Umstrittene Notwendigkeit
Gegner und Befürworter überbieten sich mit Gutachten, Schätzungen und persönlichen Meinungen. Karin Keller-Sutter als Mitglied des überparteilichen Komitees „Ja zum Sanierungstunnel“ verkündete in der NZZ, nur schon wegen der Verkehrssicherheit wäre eine zweite Röhre dringend nötig. Sie verschweigt dabei, dass in der Schweiz anderenorts Dutzende von Strassen mit Gegenverkehr existieren, die jährlich weit mehr Verkehrsopfer fordern.
Jon Pult, Bündner Grossrat und Präsident des Vereins Alpeninitiative bezeichnet dagegen den bundesrätlichen Vorschlag im gleichen Blatt als finanzpolitisch unvernünftig, verfassungsrechtlich problematisch und verkehrspolitisch unsinnig. Drei Milliarden zu verbauen sei pure Verschwendung. Vor allem wundert er sich, warum eine bauliche Kapazitätserweiterung nicht dem verfassungsmässigen Verbot der Kapazitätserweiterung widersprechen soll. Verkehrspolitisch fehlt ihm der Glaube: Zwei Röhren, in denen je nur eine Spur befahren wird? Mogelpackung oder Illusion?
3 Milliarden Franken soll also der Bau der zweiten Röhre kosten, die Sanierung des bestehenden Tunnels dagegen 1,7 Milliarden. Langfristig rechnen Experten mit 5 Milliarden für die Variante zweite Röhre und 3,6 Milliarden für die Variante Sanierung (Bericht Astra).
Alpenschutz gefährdet
Das Volk hat 1994 an der Urne entschieden, dass am Gotthard per Verfassung eine Kapazitätserhöhung der Strasse verboten ist. Das Volk befürchtet heute allerdings eine Aushöhlung dieses Artikels. Es schenkt den Beteuerungen der Befürworter wenig Glauben (NZZ, 8.1.2016). 59 Prozent der Deutschschweizer trauen Leuthards Versprechen nicht. Den Beteuerungen des wortgewaltigen Ulrich Giezendanners (SVP-Nationalrat und Fuhrhalter) mögen viele auch nicht folgen. Treuherzig verkündet er in den Medien: „Sollte in 30 Jahren doch jemand die Öffnung aller vier Spuren fordern, brauche es dafür sowieso einen neuen Volksentscheid“. Das Spiel mit den Volksinitiativen kennt seine Partei ja bestens.
Eigenartig mutet die Eile an, mit der über die zweite Röhre entschieden werden soll. Da erstellen wir das Jahrhundertbauwerk des Basistunnels, den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Noch bevor irgend jemand die Auswirkungen dieser Hochgeschwindigkeitsverbindung kennt, soll eine weitere Röhre her.
Selbst für die NZZ geht das zu schnell. Sie verweist auf die vielen Ungereimtheiten im Vorfeld der bundesrätlichen Botschaft, insbesondere die ausgeblendeten Alternativen. „Ein Nein als Chance am Gotthard“, ruft sie deshalb Leserinnen und Lesern zu (NZZ, 2.2.2016).
Alternativlos?
Im Migros Magazin vom 18.1.2016 meint Bundesrätin Doris Leuthard: „Zum Bau eines zweiten Strassentunnels durch den Gotthard gibt es keine Alternative.“ Eine persönliche Meinung als alternativlos zu bezeichnen, das kennen wir doch von der Bundeskanzlerin unseres nördlichen Nachbarn. So zu denken ist gefährlich und verleitet dazu, Veränderungen im politischen Umfeld zu ignorieren. Bekanntlich gibt es bei allen Problemen immer mehrere Varianten zu deren Lösung.
Bundesrat und Parlament befürworten die Vorlage. SVP, FDP, BDP und eine Mehrheit der CVP sind dafür, auch TCS/ACS; den Kampagnenlead hält der Schweizerische Gewerbeverband, der für die bürgerlichen Wirtschaftsverbände koordiniert. Grüne, SP, GLP, EVP, WWF, VCS, Pro Natura sind dagegen. In den direkt betroffenen Kantonen Uri und Tessin ist die Bevölkerung geteilter Meinung.