Es stimmt, bisher unterstützt und akzeptiert die schweizerische Öffentlichkeit die Mitte März vom Bundesrat angesichts der Virus-Pandemie verhängten Notmassnahmen zur Einschränkung individueller und wirtschaftlicher Freiheiten mit bemerkenswerter Geschlossenheit.
Köppels «Giftpille»
Doch inzwischen melden sich an manchen Rändern auch Stimmen, die nicht nur die Angemessenheit der geltenden Massnahmen stärker in Frage stellen. Zu vernehmen sind auch Bedenkenträger aus unterschiedlichen politischen Lagern, die das Gespenst einer möglichen Aushöhlung der Demokratie und eines vom Volk nicht genehmigten Umbaus der sozialen Marktwirtschaft in Richtung Staatssozialismus an die Wand malen.
So phantasierte der nie um schrille Töne verlegene SVP-Nationalrat Roger Köppel in seiner «Weltwoche» darüber, dass das Corona-Virus zu einer politischen «Giftpille» werden könnte, mit deren Hilfe «die Sozialisten» den «ewigen Lockdown» zu etablieren hofften, um auf diese Weise «die Marktwirtschaft durch eine Staatswirtschaft zu ersetzen».
Da fragt man sich allerdings, wie sich der alarmistische Leitartikler einen derartigen Umsturzprozess in der demokratisch solide verankerten Eidgenossenschaft praktisch vorstellt. Hat er sich allzu sehr vom ungarischen Autokraten Victor Orban, für den er ja auch schon etliche Sympathien erkennen liess, inspirieren lassen? Dieser hat bekanntlich die Virus-Krise dazu benützt, mit Hilfe seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament die Mitentscheidung der Volksvertreter auf unbestimmte Zeit ausser Kraft zu setzen. So kann der Autokrat in Budapest nun unbeschwert von lästiger parlamentarischer Einmischung und ohne zeitliche Limite per Dekret regieren.
Befristetes Notrecht
Was der SVP-Exponent Köppel und ähnlich eingestimmte, aber weniger marktschreierisch argumentierende Kassandras bei ihrem Giftpillen-Szenarium geflissentlich ausblenden, ist erstens der Umstand, dass laut der schweizerischen Verfassung das Regieren per Notrecht auf höchstens sechs Monate in Kraft bleiben darf. Ausserdem: Der Bundesrat ist ja, anders als in Ungarn, immer noch eine Mehrparteien-Regierung. Und in dieser gibt’s weiterhin eine Mehrheit von Nicht-Linken. Könnte dieses pluralistische Gremium während des Notrechts tatsächlich den Marsch in den Staatssozialismus beschliessen? Wohl nur in der überbordenden Phantasie von professionellen Doomsayers.
Kommt zweitens hinzu, dass das Parlament in der Schweiz trotz Notrecht nicht völlig ausgeschaltet ist. Schon im Mai sind wieder Sitzungen der Volksvertreter vorgesehen. Und spätestens nach Ablauf des befristeten Notrechts werden grundsätzlich auch die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte der Bürger – Initiativ- und Referendumsrecht – wieder funktionsfähig sein.
Sozialstaat mit demokratischer Basis
Glaubt die «Weltwoche»-Kassandra im Ernst, eine Mehrheit der Stimmbürger werde die von ihm als Möglichkeit prophezeite Errichtung einer sozialistischen Staatswirtschaft zustimmen? Und im Übrigen: Wenn die Volksmehrheit in freier Abstimmung eine derartige Ordnung will, so wäre das als demokratische Entscheidung zu akzeptieren – das Lamento von Untergangspropheten und ordnungspolitischer Fundamentalisten hin oder her.
Auch in der Schweiz sind in der Vergangenheit mit Zustimmung der Volksmehrheit eine Reihe sozialstaatlicher Einrichtungen – wie etwa die AHV – beschlossen worden, die damals von manchen Schwarzsehern als Abmarsch in einen sozialistischen Sumpf bekämpft worden waren.
«The state is the problem»?
In der jetzigen Zeit, in der die Corona-Pandemie die Welt fest im Griff hält und weite Teile der Wirtschaft von billionenschweren staatlichen Stützungsprogrammen über Wasser gehalten werden, fällt es den marktwirtschaftlichen Puristen ohnehin schwer, Misstrauen gegen den Staat und seine Institutionen zu schüren. Der israelische Politologe Shlomo Avineri hat unlängst in diesem Zusammenhang an den einst vielzitierten Wahlslogan des früheren amerikanischen Präsidenten Reagan erinnert: «The state is not the solution, it’s the problem».
Heute tönt solches pauschales Staats-Bashing als hohles Gerede. Selbst Donald Trump, der bis vor kurzem gerne ähnlich staatsfeindliche Sprüche vom Stapel liess, habe das offenbar eingesehen, schreibt Avineri in der Zeitung «Haaretz». Es fällt auch auf, dass Trump seit dem Ausbruch der Corona-Krise sein verschwörungsschwangeres Gefasel vom «Deep State», der angeblich seine marktfreundliche Politik hintertreibt, diskret eingestellt hat.
Erinnerung an das Notrecht im Zweiten Weltkrieg
Natürlich muss man nicht zu jedem Ausbau der staatlichen Autorität und Befugnisse automatisch Ja und Amen sagen – schon gar nicht zu einer unbefristeten Ermächtigung, die heute aber nicht mehr möglich wäre. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bewilligte die schweizerische Bundesversammlung dem Bundesrat weitgehende Vollmachten, die auch nach Kriegsende weiter gültig blieben. Erst als 1949 eine Volksinitiative (gegen die Meinung des Bundesrates und des Parlaments!) das bestehende Dringlichkeitsrecht aufhob, wurde die direkte Demokratie wieder in Kraft gesetzt.
Wachsamkeit gegenüber einer Einschränkung demokratischer Mitbestimmungsrechte ist grundsätzlich immer angezeigt. Doch solange solche Einschränkungen zeitlich begrenzt sind und nirgends zu erkennen ist, wie ein mehrheitlich bürgerlicher Bundesrat das bestehende Notrecht zu einem Umbau der Marktwirtschaft in einen Staatssozialismus nutzen könnte, bleiben schrille Giftpillen-Drehbücher Köppelscher Prägung nur theatralische Hirngespinste.