Im Zusammenhang mit der Nachricht vom Tode des früheren Bundeskanzlers Schmidt kam das Gespräch mit einem Kollegen auch auf die berühmt gewordene Bonner Grossdemonstration vom Oktober 1981 gegen den damals heiss umstrittenen Nato-Nachrüstungsbeschluss. Um die 300'000 Menschen hatten auf der Bonner Hofgartenwiese gegen diesen Beschluss demonstriert, der die Stationierung von Nato-Mittelstreckenraketen in Deutschland vorsah, falls die damalige Sowjetunion ihre bereits aufgestellten Mittelstreckenmissile nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abbauen sollte. Wer jenes Bonner Grossereignis miterlebt hat, dem wird es auch 34 Jahre später noch lebhaft im Gedächtnis bleiben.
Erinnerungen des „Vordenkers“ Eppler
„Erfinder“ dieses vielzitierten Nato-Doppelbeschlusses war der damalige SPD-Bundeskanzler Schmidt. Nicht zuletzt in Schmidts eigener Partei verschärfte sich die Opposition gegen dieses Konzept zunehmend, obwohl ein Parteitag noch 1979 dem Doppelbeschluss mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hatte. Schmidts gewichtigster Gegner in dieser Kontroverse war sein früherer Entwicklungshilfe-Minister Erhard Eppler, der die Regierung schon sieben Jahre zuvor im Zorn über mangelnde Unterstützung durch den Kanzler verlassen hatte. Eppler war auch der Hauptredner bei der Bonner Grossdemonstration, die zwar friedlich verlief, aber wegen der so dramatisch zutage getretenen Zerrissenheit der SPD im Rückblick von manchen Beobachtern als Anfang vom Ende von Schmidts Kanzlerschaft interpretiert worden ist.
Das alles ist längst Geschichte geworden. Doch der Zufall will es, dass fast gleichzeitig mit Schmidts Tod ein neues Buch des inzwischen 89-jährigen Eppler auf dem Markt erschienen ist, das den selbstbewussten Titel trägt: „Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen“ (Propyläen-Verlag 2015). In Vorausmeldungen dazu hatte unter anderen der „Spiegel“ verkündet, der „Altlinke“ Eppler rechne in diesen Erinnerungen scharf mit dem früheren Bundeskanzler und nominellen Parteifreund Schmidt ab.
Kritik am „Macher-Pathos“
Schaut man etwas tiefer in Epplers Buch hinein, ist das alles halb so wild. Da ist etwa von Schmidts „Macher-Pathos“ die Rede, das der Autor „albern“ findet. Er behauptet weiter, dass Schmidt – als er noch Minister war – auf einem Flug nach Berlin gegenüber Eppler ständig über den damaligen Kanzler Brandt und dessen angebliche Entscheidungsschwäche gelästert habe. Immerhin räumt Eppler bei allen politischen Differenzen ein, dass Schmidt ein „geborener Krisenmanager“, ein „souveräner Debattenredner“ und „unermüdlicher Arbeiter“ war, der „als Kanzler nie den Überblick verlor“.
Schäbig und unaufrichtig mutet ein anderer Aspekt in Epplers Erinnerungen an. Der engagierte Protestant, den manche Journalisten und einige Altaktivisten der verflossenen „Friedensbewegung“ gerne als „SPD-Vordenker“ apostrophieren, beschäftigt sich in nicht weniger als zwei Kapiteln mit dem grossen Raketenstreit der 1980er Jahre. Dabei schildert er ausführlich seine damalige Position in der Kontroverse um den Nato-Doppelbeschluss. Seiner Meinung nach erhöhte die damalige Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in Westeuropa die Kriegsgefahr – vor allem durch verstärkte Risiken einer irrtümlichen Entscheidung oder durch technisches Versagen auf westlicher oder östlicher Seite. Er erläutert gleichzeitig in aller Breite, weshalb er Schmidts Haltung und Argumente in dieser Auseinandersetzung für falsch und politisch zu wenig durchdacht hielt.
Schäbige Ausblendung
Doch Eppler verliert dabei kein einziges Wort darüber, dass die von Schmidt so hartnäckig vertretene Strategie später tatsächlich von Erfolg gekrönt wurde. Im Dezember 1987 unterzeichneten der damalige Kremlchef Gorbatschow und US-Präsident Reagan in Washington einen Vertrag über die Verschrottung sämtlicher in Europa stationierter Mittelstreckenwaffen. Dieses entscheidende Faktum einfach auszublenden, lässt sich mit intellektueller Redlichkeit, auf die sich der „Vordenker“ Eppler gerne beruft, schwerlich auf einen Nenner bringen. Eppler behauptet in seinen Erinnerungen auch – entgegen den späteren Tatsachen – die Reagan-Administration sei gar nicht an einem Abbau der Mitteltrecken-Raketen in Europa interessiert gewesen.
Man kann einigermassen nachvollziehen, dass manchen SPD-Granden die damalige Abwendung vom Nato-Doppelbeschluss, die 1982 wesentlich zum Koalitionswechsel der FDP und zum Sturz von Kanzler Schmidt beitrug, im Nachhinein für ein eher peinliches Kapitel in ihrer stolzen Parteigeschichte halten. Aber wenn ein Protagonist des Anti-Schmidt-Flügels wie Eppler mehr als drei Jahrzente später in seinen Erinnerungen so tut, als sei seine damalige Haltung praktisch und moralisch goldrichtig gewesen, dann ist das ein ziemlich starkes Stück Rechthaberei. Dies vor allem dann, wenn dabei konsequent ausgeklammert bleibt, dass die missliebigen Atomraketen in Ost und West ja trotz – oder gerade wegen – des von der Friedensbewegung apokalyptisch verteufelten Nato-Doppelbeschlusses zum Verschwinden gebracht wurden.
Ausgang des Raketenstreits – kein Thema
Man könnte ja argumentieren, dass ohne Gorbatschows Erscheinen auf der Kreml-Bühne die geplante Mechanik des Nato-Doppelbeschlusses vielleicht nicht funktioniert und ein Vertrag zur Verschrottung der Mittelstreckenraketen nicht zustande gekommen wäre. Auf diesen Aspekt lässt sich Eppler aber auch nicht ein – weil er offenkundig die Tatsache nicht aufs Tapet bringen will, dass diese Waffen auch ohne das von ihm verfochtene und angeblich moralisch überlegene Friedensrezept verschrottet wurden.
Helmut Schmidt war als aktiver politischer „Macher“ und später als einflussreicher Publizist und Elder Statesman gewiss nicht immer frei von rechthaberischen Zügen. Auch ihm nahestehende Mitstreiter haben gelegentlich von seiner Neigung zu arroganten Tönen gesprochen. Aber eine derart einseitig manipulierte, den sachlichen Ausgang bewusst unterschlagende Schilderung des Nachrüstungsstreits, wie Eppler sich das in seinen Erinnerungen leistet – dazu hätte der Realist Schmidt sich nie verstiegen.