Die Freundschaft zwischen dem angesehenen, in bedrückender Isolation lebenden Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und dem 26 Jahre jüngeren Thomas Harlan wirkt auf den ersten Blick irritierend. Harlan war der Sohn des nationalsozialistischen Filmemachers Veit Harlan, des Regisseurs und Mitautors des Hetzfilms „Jud Süss“.
Die beiden verband ihr einsamer Kampf gegen die verleugneten, verdrängten nationalsozialistischen Verbrechen. Ihr Engagement war zugleich mit massiven eigenen Gefährdungen verbunden, die von juristischen Drangsalierungen Harlans bis zu Morddrohungen gegen Bauer reichten. In welchem Masse Thomas Harlan an der „Aufarbeitung“ der nationalsozialistischen Verbrechen, an der Rekonstruktion von Täterprofilen beteiligt war, wird in diesen bemerkenswerten, die Jahre 1962 bis 1968 umspannenden Briefen deutlich. Die Korrespondenz reicht bis zu Fritz Bauers Tod am 1. Juli 1968.
Ungleiche Kämpfer, gleicher Kampf
Fritz Bauer war Jude, was er so weit wie möglich zu verbergen trachtete. Er wusste, dass das Wissen um seine jüdische Herkunft den antisemitischen Furor seiner zahlreichen Gegner und Feinde nur steigern würde. Diese zusätzliche Angriffsfläche wollte er ihnen nicht bieten. Sein Leben war ein leidenschaftlicher, dennoch illusionsloser Kampf um Recht und Gerechtigkeit, den der Herausgeber Werner Renz, langjähriger Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts, in seinem dichten einleitenden Portrait Bauers beschreibt.
Der 1929 geborene Thomas Harlan führte gleichfalls einen lebenslangen Kampf für die Aufklärung der Massenmorde der Nationalsozialisten. Sein eher unbekanntes Wirken wird in dem einführenden Buchbeitrag von Jean-Pierre Stephan rekonstruiert. Joseph Goebbels war ein häufiger Besucher der Harlans. Thomas Harlan verstand sich, in Rebellion gegen die Untaten seines Vaters, früh als „sehr links“ und gehörte zu den Ersten, die sich konsequent für die Strafverfolgung von NS-Verbrechern einsetzten. Er hatte, im Gegensatz zu dem „etablierten“ Juristen Fritz Bauer, keine schutzgebende gesellschaftliche Position.
1958 begann Harlan mit der Erstattung von Strafanzeigen gegen Nazis; insgesamt sollten es über zweitausend werden. Grundlage waren umfangreiche eigene Recherchen zu Nazibiografien. In der Folge überzog ihn der Rechtsanwalt und langjährige FDP-Bundestagsabgeordnete Ernst Achenbach, ein rechtsradikaler Geschichtsleugner, mit Gegen-Strafanzeigen.
1959 ging Harlan nach Polen und baute dort ein umfangreiches Team für Recherchen über deutsche Kriegsverbrecher auf. Er freundete sich auch mit der Shoah-Überlebenden und frühen Auschwitz-Publizistin Krystyna Zywulska an. Nach fünf Jahren musste er das weiterhin antisemitisch geprägte Polen, auch wegen seiner konsequent pro-israelischen Grundhaltung, wieder verlassen.
Geteilte Trauer
Harlan ging nach Italien, freundete sich mit dem linksradikalen Verleger Giangiacomo Feltrinelli an. In diesen Jahren begann auch seine Freundschaft mit Fritz Bauer. Von 1962 bis 1968 schickt ihm Fritz Bauer 131 grösstenteils persönlich gehaltene Briefe, ein aussergewöhnliches Dokument der Freundschaft dieser doch so unterschiedlichen Menschen. Die Briefe Thomas Harlans sind nicht erhalten.
Der erste Brief datiert vom 1. April 1962. Bereits bei diesem ersten Kontakt streicht der lebenserfahrene Fritz Bauer das Gemeinsame zwischen ihnen hervor: „Glauben Sie, dass wir die Traurigkeit hier nicht teilen? Es ist vieles traurig in der Welt, aber wahr und nicht zu ändern. Die Verhältnisse, die sind nicht so.“ Die Grundlage für eine zunehmend gleichberechtigte Beziehung, in der Bauer die Position des älteren, besonnenen Ratgebers übernahm, ist gelegt.
Nach neun Monaten, am 31. Dezember 1962, spricht Fritz Bauer Harlan erstmals mit dessen Vornamen an. Er beschreibt seine geplanten Buchpublikationen („Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle!“). Schreiben betrachtet er als eine existentielle Verpflichtung, „um irgendeinen Sinn in diesem Erdenleben zu finden.“
Väterlicher Freund
Fritz Bauer zeigt sich Harlan gegenüber immer wieder als beratender, besonnener väterlicher Ratgeber und Freund. Nach dessen Vertreibung aus Polen durch den stalinistisch geprägten Moskauer Parteiflügel schreibt Bauer ihm: „Das Jahr 1964 ist schwer für Sie. Manchmal geht das Leben hart mit den Menschen um“. Zugleich nimmt er ihm – vor dem Hintergrund der „Spiegel-Affäre“ (1962) – die Angst, dass er nun auch weiterhin in Deutschland von der Justiz verfolgt werde: „Es ist doch töricht, wenn Sie sich mit Augstein vergleichen. Lieber Thomas, leiden Sie an Grössenwahn? Damals ging es doch um weiss Gott was anderes. Oder glauben Sie, dass Herr Strauss (Strauss ist fett unterstrichen) Sie verfolgt? Es geht doch auch nicht um ‚Landesverrat’ im üblichen Sinn.“
Seine vielfältigen Arbeiten halten Fritz Bauer aufrecht: „Ich halte mich an die Arbeit, sie ist das Rückgrat. Abends schreibe ich dies oder jenes, damit die Wände nicht über mir zusammenfallen.“ bemerkt er am 30. Oktober 1964.
Fritz Bauer gibt Harlan immer wieder Rückmeldungen über dessen neue Texte, die er meist unmittelbar nach ihrem Eintreffen liest: „Man kann von einem Journalisten und Dichter nicht verlangen, dass er das Recht kennt. Ich würde auf eine Polemik gegen das Gesetz (das Recht) an Ihrer Stelle überhaupt verzichten; sinngemäss und vernünftig ist allein eine Polemik gegen die Rechtsprechung.“ Und am 10. Jui 1965 äussert er seine Begeisterung über Harlans Exposé: „… ganz grossartig, handlungserfüllt, spannend und energiegeladen. Es ist Dir unübertroffen gelungen, Bewegung in das stabile Haus zu bringen und wirklich deutsches Leben zu treffen.“
Nicht zu radikal vorgehen!
Bauers Briefe nehmen einen zunehmend persönlicheren Charakter an. Im Mai 1965 bittet er Harlan: „Lassen Sie bitte den läppischen „Dr.“ weg. Mit dem Abwurf der Überflüssigkeiten sollten Sie nicht zögern.“ Im Sommer 1965 geht er dann bei der Ansprache in seinen Briefen zum „Du“ über. Bauer thematisiert mehrfach verschiedene Filmprojekte von Freunden, insbesondere solche, die sich auf seine eigenen Erfahrungen mit Kriegsverbrecherprozessen beziehen: „Ein deutscher Prozess, in dem eine Nazigeschichte“ thematisiert wird und in der Zeugen auftreten, „die zeigen, dass es möglich war, auch in schweren Situationen nein zu sagen.“
Zugleich warnt er Harlan, vor dem Hintergrund seiner eigenen leidvollen Erfahrungen, vor zu radikalen Filmprojekten: „Dein Film kann überall in der Welt gedreht und gespielt werden, aber nicht in Germany. Diejenigen, die Deinen Vernichtungsdrang ahnen, sagen kategorisch nein. Sie wollen keinen zweiten Morgenthau-Plan aus der Feder meines Freundes Thomas. Kein deutsches Geld steht hierfür zur Verfügung, kein Zuschauer wird da sein, und kein deutsches Kino wird den Film akzeptieren“, gibt er ihm am 10. Juli 1965 mahnend mit auf dem Weg.
Fritz Bauer ahnt die Enttäuschung seines ungestümen, ungeduldigen Freundes über seine Warnung und fügt hinzu: „Du musst mich verstehen, Thomas, mit der letzten Kraft meines Traumes wünsche ich, dass die Vergangenheit nicht umsonst war, dass die Tränen und das Blut nicht umsonst flossen. Wir müssen versuchen, den Gutwilligen, die es doch (…) gibt, zu helfen.“
Immer wieder versucht er, den Furor seines jüngeren Freundes zu kanalisieren: „Die Idee ist genial, aber was in aller Welt hast Du alles hineingepackt? (…) So wie es jetzt ist, übertrifft es Karl Kraus oder meinetwegen den Ring der Nibelungen plus Faust I und II.“ Am 17. September 1965 hingegen preist er ein Drehbuch von Harlan: „Ich habe das Manuskript mit Erschütterung und Tränen gelesen, dann habe ich es sofort nach München gesandt.“
Hoffnung auf die junge Generation
Der junge Thomas Harlan verkörpert für den isoliert handelnden Bauer eine Hoffnung auf die junge Generation, die wirklich Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen bereit ist. Bauer tritt in den 60er Jahren häufig in Diskussionsrunden auf; einige von diesen werden im Fernsehen übertragen. Er beschreibt dem anklagenden Harlan die unterschiedlichen psychologischen Reaktionen auf die Nazizeit: „Es ist vollkommen zutreffend, dass die alte Generation nach einem Sündenbock schreit, um ihre Schuld (und Schuldgefühle) loszuwerden. Die junge Generation will Ruhe, weil sie nichts lernen will, was unangenehm ist: Toleranz, Vorurteilsfreiheit.“
Den Kern seiner eigenen verzweifelten Bemühungen, einen Brückenschlag zur nachwachsenden Generation zu finden, fasst er so zusammen: „Alle meine Reden an die junge Generation und Schriften (…) reden nicht von der Vergangenheit, sondern von dem, was wir heute daraus zu lernen haben, heute und morgen. Das ist die Überwindung von totalitären Vorstellungen.“ Er appelliert an seinen Freund Harlan, auf seine Fähigkeiten als Schriftsteller zu vertrauen: „Du bist doch Dichter und nicht Faktensammler.“
Und doch vermag Fritz Bauer, trotz Anfeindungen, die er sehr zahlreich erlebt, auch Erfreuliches wahrzunehmen. Am 2. März 1966, zwei Jahre vor seinem Tod, notiert er nach einer Podiumsdiskussion: „Und einige andere jammern, dass Churchill Deutschland ‚ausradierte’ und die Israelis den Auschwitzprozess von mir erpressen. Na, man muss alles mitmachen. Die jungen Leute waren fast alle allright, und ich lebe ja noch.“
Existieren am Rand mit Elefantenhaut
Der seelisch eher geerdete Fritz Bauer bemüht sich, Harlans regelmässig auftretende wilde Verzweiflung anzusprechen und zu mildern: „Nun kommst Du wieder auf die Kindlers und Fischers zu sprechen. Thomas, mein Thomas, kannst Du denn gar nichts vergessen?“ schreibt er ihm am 9. Mai 1966. Und einige Absätze weiter: „Ich bin tagaus tagein mit Leuten zusammen, die mich für einen Schweinehund halten, ich muss mir tausenderlei Dinge von ihnen sagen lassen und trotzdem mit ihnen leben und arbeiten. (…) Ich existiere immer nur am Rande des Lebens, wäre ich wie Du, ich wäre schon längst hinuntergekippt.“ Und in einem späteren Brief: „Denke weniger an Dich, sondern an Deine publizistische Aufgabe. Das Sachliche ist doch wichtiger als das Persönlich-Menschliche. So, das wäre geschrieben.“
Mehrfach empfiehlt Bauer seinem Freund, sich emotional nicht zu ruinieren, schreibt ihm, „dass man sich auch eine Elefantenhaut wachsen lassen kann.“ Vermutlich vergeblich. Im Oktober 1966 erregt sich Harlan über einen Spiegel-Beitrag, in welchem eine Erzählung von ihm besprochen wird. Fritz Bauer: „Der Aufsatz ist wie hundert andere im „Spiegel“ eine halbe Wahrheit. (…) Morgen ist der Artikel vergessen. Wie kann man sich da aus der Ruhe bringen lassen?“
Im luftleeren Raum
Gelegentlich spricht selbst Fritz Bauer direkter über seine Enttäuschungen über die deutsche Justiz, über die Entschlossenheit, mit der sie seine Aufklärungsversuche über die deutschen Verbrechen immer wieder bekämpft und unterbindet. Wie sie ihm ihr „grosses Unbehagen gegen die Prozesse“ unmissverständlich verdeutlicht.
Bauer betrachtet den überzeugten Linken Thomas Harlan als einen selbstverständlichen Verbündeten. Im Oktober 1966 schreibt er ihm: „Verstehe, dass ich gegen viele Seiten kämpfen muss. Ich stehe doch praktisch in einem luftleeren Raum. Was ich Dir schrieb, ist sicher das Äusserste, was man von der deutschen Linken erwarten kann. Ich kann mich nicht auf Disziplinarverfahren, Strafverfahren usw. einlassen, die ich verliere, z.B. wenn ich Namen nenne.“ Und er schliesst seinen Brief mit dem überraschend deutlichen Hinweis: „Ich bin von Gott und der Welt verlassen genug.“
Am 24. September 1966 ein sehr persönlicher Brief, den Bauer an Harlan und an den Schauspieler Max Friedmann schickt. In diesem spricht der ansonsten stets zurückhaltende und die eigene Empfindsamkeit verbergende Jurist Fritz Bauer die seelischen Nachfolgen angesichts der organisierten Angriffe gegen sein Lebenswerk unmittelbar an: „Du Thomas, wünschst mehr Zärtlichkeit. In Ascona hast Du mir versprochen, mir ein ärztliches Schreiben zu fertigen, wie ich zärtlicher mit mir selbst umgehen soll. Es ist leider nicht gekommen. Ich habe also die ‚Zärtlichkeit’ gegenüber den Menschen, mich eingeschlossen, noch nicht lernen können.“
„Ihr müsst verstehen, dass ich Freunde brauche“
Im Herbst 1967 empfindet Fritz Bauer seine Lebensituation als gefährdet. Der Spiegel bringt einen Beitrag über eine juristische Auseinandersetzung, die Bauer als Rufmord interpretiert: „In der Zwischenzeit ist der Teufel ausgebrochen, was ich die ganze Zeit fürchtete. Was vorher gerade stand, ist umgefallen, u. morgen bringt der ‚Spiegel’ einen bösen, vielleicht mörderischen, zudem juristisch falschen Artikel. Du kannst verstehen, wie mir zu Mute ist, der viel Arbeit hat, viel äussere und innere Unruhe“, bemerkt der 64-jährige Fritz Bauer am 22. Oktober 1967.
Einen Monat später fügt er in einem wohl an mehrere Freunde gerichteten Brief hinzu: „Liebe Freunde, die Strafanzeigen hageln; alles ist gegen mich verschworen, wie Ihr den Zeitungen entnehmen könnt. Ich arbeite 16 Stunden, meine Frau ist da, u. ich habe keine Zeit für sie. Was mit mir geschehen wird, weiss ich nicht. Ihr müsst verstehen, dass ich Freunde brauche, dass ich Euch aus vielen Gründen brauche.“ Und am 5.12.67 notiert er: „Vorläufig rase ich redend durch die Bundesrepublik. Hat es überhaupt einen Sinn?“
„Vergesst mich nicht“
1968 hatte Fritz Bauer noch Zukunftspläne: Der 64-jährige hat soeben beim Ministerium beantragt, seine Amtszeit um drei Jahre verlängern zu lassen. In seinen letzten Briefen spricht er über ein von Harlan wohl in eigener Regie vorangetriebenes Projekt eines gemeinsamen Hauskaufes, für das Bauer viel Geld beisteuern soll. Das Projekt selbst empfindet Fritz Bauer als völlig unrealistisch. Tiefe Trauer schwingt in seinen letzten Briefen aus dem Jahr 1968 mit: „Dies alles tut mir sehr weh, ich bin sehr traurig, sehr unglücklich, deswegen und aus manchen anderen Gründen.“ Und seinen vorletzten Brief vom 10.4.68 schliesst er mit: „Vergesst mich nicht, ich vergesse Euch nicht.“
Am 1. Juli 1968 wird Fritz Bauer tot in seiner Badewanne aufgefunden. Gerichtsmedizinische Gutachten verneinen einen Mord. Werner Renz, seit 15 Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts, beschliesst sein eigenes Portrait Fritz Bauers so: „Neben Freitod ist auch von Fremdverschulden, von Mord die Rede. Für die Mordthese spricht jedoch nichts. Die überlieferten Quellen zu Bauers Tod legen allein den Schluss nahe, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist.“
Werner Renz (Hg.): „Von Gott und der Welt verlassen“. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan, Campus 2015, 299 S.