Was es da zu entdecken gibt, zeigt eine erste CD. Zwei Tourneen im Juni und von August bis Oktober sind geplant.
Gleich zwei Tourneen mit ihrem Swiss Orchestra hat ihr die Corona-Pandemie verhagelt. Doch entmutigen lässt die Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer sich davon nicht. Die Tourneen werden nachgeholt. Die erste führt vom 6. bis 13. Juni nach Andermatt, Basel, Zürich und Lausanne. Mit dabei sind der Oboist Heinz Holliger und die Harfenistin Alice Belugou, die als Solisten in Frank Martins – Holliger gewidmeten – «Trois Danses» für Oboe, Harfe, Streichquintett und Streichorchester auftreten. Eingerahmt werden sie von Johann Carl Eschmanns «Grosser Konzert-Ouvertüre» und der dritten Sinfonie von Johannes Brahms.
Welche Musik überlebt?
Schon in diesem ersten Konzertprogramm wird deutlich, worum es Lena-Lisa Wüstendörfer mit ihrem Orchester aus vorwiegend jüngeren Berufsmusikerinnen und -musikern geht: Sie möchten vergessene Schweizer Komponisten der Vergessenheit entreissen. Die studierte Musikwissenschaftlerin Wüstendörfer macht in den Archiven immer wieder überraschende Funde. «Da schlummert noch viel», sagt sie. Wie diese vergessenen Werke klingen, das zeigt eindrucksvoll jene CD, die das Swiss Orchestra im August vergangenen Jahres eingespielt hat. Mit Joachim Raffs Orchesterlied «Traumkönig und sein Lieb» und August Walters Sinfonie in Es-Dur op. 9 wird das Orchester auch zwischen dem 27. August und 16. Oktober seine zweite Tournee in diesem Jahr bestreiten und in Bern, Davos, St. Gallen und Zürich auftreten. Als Solistin begleitet das Orchester die Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis, die weitere Werke von Raff interpretieren wird.
Ob Komponisten und ihre Werke auch vor nachfolgenden Generationen bestehen können – oder ob sie vergessen werden –, das hängt von mehreren Faktoren ab: Davon, wie gut ein Komponist zu seinen Lebzeiten aufgeführt worden ist. Weiter: Ob es über seinen Tod hinaus Menschen gibt, die sein Werk pflegen. Und: Ob dieses Werk den Zeitgeist trifft. Lena-Lisa Wüstendörfer erläutert dies am Beispiel Gustav Mahlers, über dessen Sinfonien sie promoviert hat. «Mahler wurde zu Lebzeiten durchaus aufgeführt, geriet dann aber nach seinem Tod 1911 in Vergessenheit. Seine Witwe Alma Mahler-Werfel und befreundete Dirigenten haben sich aber beharrlich für ihn eingesetzt, bis in den Sechzigerjahren dann eine bis heute anhaltende Renaissance einsetzte.»
«Da war Joachim Raff seiner Zeit voraus»
Von den beiden Komponisten der CD ist der 1822 geborene und von Felix Mendelssohn Bartholdy geförderte Joachim Raff der bekanntere, allerdings stärker in seiner Rolle als Sekretär von Franz Liszt denn als sehr produktiver Komponist. «Die gängige Lehrmeinung taxiert Raffs Werk gemeinhin als eher konventionell», sagt Lena-Lisa Wüstendörfer, «mit diesem Orchesterlied war Raff aber seiner Zeit voraus». Gestossen ist sie auf «Traumkönig und sein Lieb» nach einem Gedicht von Emanuel Geibel, das Marie-Claude Chappuis mit warmer, ausdrucksvoller Stimme interpretiert, im Raff-Archiv in Lachen, wo der 1882 in Frankfurt Verstorbene aufgewachsen ist.
Während sich Joachim Raffs Karriere zum grössten Teil in Deutschland abspielt, legt August Walter den umgekehrten Weg zurück. In Stuttgart als Sohn eines musikalischen Zuckerbäckers geboren, studiert er in Wien, wo er 1843 mit Anfang zwanzig auch seine Sinfonie Es-Dur op. 9 komponiert. Ihre Uraufführung wird zum durchschlagenden Erfolg; Aufführungen in weiteren Städten folgen – unter anderem in Basel, wo Walter von 1846 bis zu seinem Tod 1896 als Musikdirektor wirkt und auch «in Anerkennung seiner Leistungen auf dem Gebiete der Tonkunst» eingebürgert wird.
Diese Leistungen sind heute vergessen. Leider, muss man beim Anhören der schönen und munteren, sich an der Wiener Klassik orientierenden Sinfonie Es-Dur sagen. August Walter hat sich über das nachlassende Interesse an seiner einzigen Sinfonie selber seine Gedanken gemacht und vermutet, sie hätte «länger und nachhaltiger gewirkt, wenn sie mehr vom musikalischen Geiste der Neuzeit beeinflusst worden wäre».
Ein wunderbarer Zufall hat Lena-Lisa Wüstendörfer übrigens noch zu drei Tagebüchern von August Walter geführt. «Bei den Aufnahmen hat sich herausgestellt, dass eine schon sehr betagte Tante von Marie-Claude Chappuis mit dem Enkel von August Walter verheiratet war.»
Die CD kann ebenso über www.swissorchestra.ch bestellt werden wie Konzerttickets der beiden Tourneen.