Im Bündner Kunstmuseum Chur treffen sich zwei Künstlerinnen, beide in Chur geboren, allerdings im Abstand von 220 Jahren: Angelika Kauffmann (1741–1807), Malerin zwischen Klassizismus und Romantik, und Ursula Palla (*1961), Gestalterin vertrackter Rauminstallationen.
Sie war eine Sensation und eine höchst erfolgreiche Berühmtheit: die Malerin Angelika Kauffmann. Allen gesellschaftlich-kulturellen Hindernissen zum Trotz erreichte sie so ziemlich jeden Gipfel der damaligen Kunstwelt. Bekannt, gefragt und tätig quer durch Europa, war sie enorm produktiv. Sie hinterliess über 800 Werke, die nach einer Periode eher lauen Interesses heute wieder Aufmerksamkeit finden, und das durchaus nicht nur im Rahmen von Gender Studies.
Allen gesellschaftlich-kulturellen Hindernissen zum Trotz erreichte Angelika Kauffmann so ziemlich jeden Gipfel der damaligen Kunstwelt.
Von den Eltern früh gefördert im Zeichnen und Malen, genauso aber auch in Gesang und Sprachen, entschied sich Angelika Kauffmann nach dem Tod ihrer Mutter, die den musikalisch-sprachlichen Teil zu ihrer Bildung beigesteuert hatte, trotz offensichtlicher Begabung nicht Sängerin, sondern Malerin zu werden. Sie folgte damit der Spur, die ihr Vater, ein Porträtist und Freskenmaler, vorgegeben hatte. Den Durchbruch als Malerin erzielte sie 1763 in Rom mit ihrem Bildnis des Archäologen Johann Joachim Winckelmann. Fortan konnte sie sich der Aufträge für Porträts, aber auch für mythologisch-literarische Szenen, historische und religiöse Sujets kaum mehr erwehren.
Um die enorme Nachfrage bedienen zu können, fertigte sie oft mehrere Versionen eines besonders begehrten Bildes an. Gutes Handwerk war die Essenz aller Kunstproduktion. Remakes galten daher nicht als minderwertig. Gemaltes musste entsprechend den geltenden inhaltlichen Konventionen und nach den Regeln der Kunst gemacht sein. Und an Kunstfertigkeit konnte es Angelika Kauffmann mit den Granden ihrer Epoche aufnehmen; sie studierte diese gründlich und nahm immer wieder Impulse von wichtigen zeitgenössischen Malern auf. Ihre ästhetische Grundlage jedoch waren die Meister der Renaissance. Man nannte sie den «weiblichen Raffael».
Gutes Handwerk war die Essenz aller Kunstproduktion. Und an Kunstfertigkeit konnte es Angelika Kauffmann mit den Granden ihrer Epoche aufnehmen
Als gebildete und belesene Frau schöpfte sie aus Literatur und antiker sowie christlicher Mythologie ein breites Repertoire an Sujets, mit denen sie die konventionalisierten Publikumserwartungen variantenreich zu bedienen wusste. Ihr Stil war in allen Genres gefällig, ohne in Banalität abzugleiten. Die Harmonie ihrer Bildkompositionen, die Grazie ihrer Figuren und die Wärme ihres Kolorits verschafften ihr das Attribut einer «pittrice delle grazie».
Die weltläufige Churerin hatte somit alles, was sie zum Popstar ihrer Zeit prädestinierte. In ihren Auftragsbüchern figurierte die Corona des Hochadels und der Geldaristokratie. Dass Angelika Kauffmann in ihrer Zeit herausragte, liegt nicht nur an der Leistung, sich als Frau in einer dem weiblichen Geschlecht sonst verschlossenen Sphäre durchgesetzt zu haben. Sie stiess darüber hinaus in die Spitzenliga des Kunstmarkts vor und erreichte als Malerin eine erstklassige Reputation.
Die weltläufige Churerin hatte alles, was sie zum Popstar ihrer Zeit prädestinierte. Sie stiess in die Spitzenliga des Kunstmarkts vor und erreichte als Malerin eine erstklassige Reputation.
Im Bündner Kunstmuseum Chur bildet ein Ensemble von Kauffmann-Bildern seit Langem den historischen Auftakt der Sammlung. Darunter befindet sich als Höhepunkt das eindrucksvolle Selbstporträt, in dem die Kauffmann sich mit den Insignien von Zeichnung, Malerei und Skulptur nachdrücklich und selbstbewusst als arrivierte Künstlerin inszeniert. Dieser Bestand ist nun durch eine Schenkung des Kauffmann-Liebhabers und -Sammlers Johannes Fulda auf einen Schlag verdoppelt worden. Das Museum präsentiert seine erweiterte Kauffmann-Werkgruppe in zwei Räumen der Villa Planta.
Gleich neben den Kauffmann-Räumen im alten Museumsteil sowie im Barozzi-Veiga-Neubau ist die andere Churerin zu erleben, die zwei Jahrhunderte nach Angelika Kauffmann geborene Ursula Palla.
Vor der Installation in der Villa Planta steht man erst einmal etwas perplex. Zu sehen ist eine aufs Minimum reduzierte, aber gediegene Salonausstattung. Doch mit den Einrichtungsgegenständen stimmt etwas nicht. Ihre Formen und Oberflächen sind nicht ganz comme il faut. Tatsächlich bestehen sie aus einem Stoff, den man im Museum nicht erwartet: Karamell.
Das Karamellzimmer ist eine Anspielung auf das legendäre Bernsteinzimmer. Die Künstlerin hat ihre Installation 2018 im Schloss Hallwyl erstmals eingerichtet. Auch in Chur ist das Mobiliar wieder aus Karamellmasse gegossen; die Gussformen stammen von historischen Möbelstücken. Zunehmende Wärme wird die Artefakte zum Schmelzen und aus der Form bringen. Man kann der Vergänglichkeit zusehen. Zudem ist hier die überwältigende Pracht des Bernsteinzimmers herunterbuchstabiert auf ein ephemeres Gebilde, das von Aristokratie und Glanz nur noch eine vage Geste übriglässt.
Man kann der Vergänglichkeit zusehen, von Aristokratie und Glanz bleibt nur eine Geste übrig.
Ursula Pallas Installationen und Videoarbeiten enthalten stets solche Störungen und Irritationen. Auf einem am Boden liegenden Haufen von Bildschirmen tummeln sich übergrosse Ameisen. Auf den zweiten Blick erkennt man erst, was sie so geschäftig betreiben: Sie zerfressen Tausendernoten und bauen aus dem Material ihren Ameisenhaufen, der hier durch den Bildschirmhaufen repräsentiert ist. – Wir stehen vor einer veritablen Vanitas-Darstellung, nur dass hier nicht, wie bei den mittelalterlichen Skulpturen, Jugend und Schönheit, sondern ein Wohlstandssymbol im Zustand des Zerfalls vor Augen liegt.
Rauminstallationen fotografisch wiederzugeben, ist nur mit grossen Einschränkungen möglich. Gerade von «Landscape 5 Part 3» gibt die Fotografie einen unzureichenden Eindruck; sie vermittelt weder die packende Schönheit noch gar das Überraschungsmoment des Objekts. Vor Ort im Museum sieht man zunächst eine im sonst leeren weissen Ausstellungsraum schwebende grosse Wolke aus Tausenden filigraner, leicht glitzernder Teilchen. Fokussiert man auf die sich in der Nähe befindenden Dingerchen, so wird man erst gewahr: Es sind alles ganz feine, fiese Angelhaken, die da an hauchdünnen Drähten im Raum hängen und ein sanft flottierendes Gebilde evozieren.
Die Dinge sind nicht, was sie scheinen. Schein und Sein haben kaum etwas miteinander zu tun.
Die Dinge sind nicht, was sie scheinen. Schein und Sein haben kaum etwas miteinander zu tun. Ursula Pallas Kunst nistet in diesem Zwiespalt. Sie spiegelt etwas vor, gibt aber gleichzeitig Hinweise, dass der Anschein nicht für bare Münze genommen werden kann. In dieser bildnerischen Strategie steckt mehr als die blosse Aufforderung, sich nicht täuschen zu lassen. Sie zielt vor allem auf die Kunst selbst, indem sie das Darstellen fundamental problematisiert.
Zwei Jahrhunderte liegen zwischen den beiden Churerinnen Ursula Palla und Angelika Kauffmann. Bei der Letzteren gehorchte die Kunst klaren Regeln. Was überhaupt dargestellt wurde; wie Bilder aufzubauen und auszuführen waren; welche visuellen Codes die Darstellungen für gebildete Betrachter lesbar machten; wie die Attribute des Schicklichen, Anmutigen, Wohlgefälligen, Ergreifenden, Dramatischen, Heroischen oder Erhabenen gestalterisch zu realisieren waren: das alles war durch kulturelle Übereinkunft festgelegt. Der «Schein» der ästhetischen Form und das «Sein» ihres Sinngehalts waren kongruent. Die kunstfertige Einhaltung der geltenden Regeln war Garant dieser Einheit.
Ursula Palla arbeitet künstlerisch in einer Welt, in der es die Einheit von ästhetischer Form und Sinngehalt nicht mehr gibt.
Eine Zeitgenossin wie Ursula Palla arbeitet künstlerisch in einer Welt, in der es diese Einheit nicht mehr gibt. Moderne und erst recht zeitgenössische Kunst hat das Korsett der vorweg festgelegten Regeln hinter sich gelassen. Das Prinzip der Imitation der Natur, des Darstellens überhaupt ist als eherne Regel ausser Kraft gesetzt. Anlässe und Themen künstlerischen Schaffens sind genauso wenig normiert wie die Medien und Ausdrucksformen von Artefakten.
Bei dem zwischen den beiden Künstlerinnen exemplarisch aufscheinenden Gegensatz empfiehlt es sich jedoch, das bei Ursula Palla Entdeckte zu bedenken: dass er nämlich zunächst einmal «Schein» ist. Das Offensichtliche ist kein Garant für das, was tatsächlich ist. Mit anderen Worten: Die Gegensätzlichkeit der kunsthistorischen Positionen von damals und heute geht vielleicht in Wahrheit weniger tief als es scheint.
Gelänge es, die Distanz, die wir heute zu Angelika Kauffmann haben, auch gegenüber Ursula Palla einzunehmen, indem wir uns zweihundert Jahre voraus in die Zukunft phantasierten und von dort auf das Heute zurückblickten – was würden wir da sehen? Vielleicht eine Kunst, die ebenso wie jene des Klassizismus und der beginnenden Romantik sich in einem festen Gehäuse von Konventionen bewegt?
Damals die ehernen Regeln der Beschränkung – heute die nicht weniger gebieterischen der Grenzüberschreitung.
Wir könnten die kulturellen Settings des 18. dann mit jenen des 20. und 21. Jahrhunderts vergleichen und würden sehen: damals die strengen Regeln der Beschränkung – heute die nicht weniger gebieterischen der Grenzüberschreitung. Statt der Konvention ist Authentizität gefragt, statt des Kunstgemässen das Ausserordentliche, statt der Tradition die Innovation und im Extremfall statt der Bestätigung der Skandal.
Publikumserwartungen, Kunstbetrieb und vor allem der Kunstmarkt sind auf Dynamik statt auf Kontinuität gepolt. Doch Vorsicht: Auch dieser Befund ist Schein. Hinter der Dramatik des Bruchs gibt es auch den Rückbezug auf Vorbilder sowie die Orientierung an Beständen und Kategorien der Kunstgeschichte.
Bündner Kunstmuseum Chur
Angelika Kauffmann. Neu in der Sammlung – bis 31. Juli 2022
Ursula Palla. Nowhereland – bis 29. Mai 2022